So sehr mich die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft in Kostümfilmen fasziniert, so sehr irritiert mich die Darstellung von Sex in Filmen, die jenseits der 1970er spielen, die sich in der Regel an zwei Polen aufspannt: Entweder findet körperliche Intimität überhaupt nicht statt oder sie geschieht als wildes Übereinanderherfallen, als wäre sie schon immer das Selbstverständlichste der Welt gewesen und nicht mit allerlei Restriktionen und Unwissenheiten verbunden. On Chesil Beach aber nimmt die Zeit und ihre Prüderie in die Rechnung seiner recht durchschnittlichen Liebesgeschichte mit auf und führt sie doch zu einem speziellen Ausgang. Denn ein offenes intimes Gespräch zwischen den Verliebten Florence (Saoirse Ronan) und Edward (Billy Howle) hätte die Luft bereinigt, aber belastet mit individuellen schwammigen Erwartungen und mehr oder weniger vorhanden Bedürfnissen, führt ihre unbeholfene Hochzeitsnacht schließlich zur Katastrophe. (Aus meinen Beschreibungen geht das Ende des Films hervor, aber mit diesem Wissen macht er sehr viel mehr Spaß.)
Paradoxerweise glaube ich aber nicht, dass Männer in unserer übersexualisierten Zeit im ersten Moment sehr viel anders reagieren würden. Die grundsätzlich monogamen Vorstellungen der Durchschnittsbeziehung haben sich seither schließlich wenig weiterentwickelt. Florences und Edwards Problem wird nicht allein durch fehlende Aufklärung und Scham geschaffen, sondern auch durch die mangelnde Bereitschaft, über den Tellerrand der eigenen Bedürfnisse hinauszusehen, weil sie als „normal“ und erwartbar gelten. Und so legt der Film Sex nicht als mögliche verbindende Kraft offen, sondern als Keil, der gerade durch seine Intimität zwischen Menschen getrieben werden kann (was Hinweise in Bezug auf Florences Kindheit wohl unterstützen sollen). Aber nicht nur diese authentische, kluge, auf beide Parteien hin ausgewogene Darstellung der Wahrnehmung von Nähe und Sex machen den Film so erstaunlich, sondern sämtliche menschliche Konstellation und Entwicklungen, die den entzweienden Twist vorbereiten.
Die beiden porträtierten Familien und ihr facettenreich besetztes Ensemble bringen nicht nur die Epoche, das englische Klassensystem und konträre familiäre Beziehungen zum Leben, sondern formen aus jeder einzelnen Figur einen prägnanten, trotzdem auf dem Boden gehaltenen Charakter, der in bestimmtem Bezug zur zentralen Liebesgeschichte steht und auf einer Skala zwischen Rigidität und Nonkonformismus einzustufen ist. Besonders die beiden Hauptdarsteller inkarnieren ihre Rollen nicht nur perfekt, sie statten sie mit Eigenheiten und Andeutungen aus, die sie erst real wirken lassen und lebendiger machen als die typischen Versuchskaninchen in einem von Ian McEwans perfiden Spielchen mit Obsessionen und Egoismen. Ich hätte diesem Strauß Charakterköpfe tatsächlich ewig dabei zusehen können, wie sie ihre ohne Frage endlosen Ticks und Eigenheiten offenlegen, dabei aber immer nur komplexer werden statt ihre Rätsel jemals zu lüften. Selbst Figuren mit nur wenigen eigenen Szenen (wie die Väter oder die Zwillinge) wirken vielschichtig, mit speziellen Bedürfnissen ausgestattet und nicht auf den ersten Eindruck reduzierbar.
Die Wende in der Handlung kommt schließlich auch nur mit solcher Brutalität daher, weil die Beziehung der beiden jungen Menschen einerseits in Rückblenden, die die Hochzeitsnacht durch ihr emotionales Gewicht zerdehnen, ordentlich entwickelt wird. Andererseits bleiben aber genug Leerstellen, um ihr Verhalten stets unberechenbar sein zu lassen. Diese Liebe erscheint nicht schicksalhaft oder als einzig mögliche für Florence und Edward, aber sie ist nachvollziehbar, und die beiden werden als Individuen belassen statt ineinander zu verschmelzen. Liebe führt eben nicht automatisch zu absolutem Verständnis und Hemmungslosigkeit.
Der zum großen Teil aus klassischen Stücken bestehende Soundtrack verleiht der alltäglichen Geschichte zusätzliches dramatisches Gewicht, und Sean Bobbitts elegante Kamera überzeugt vor allem durch das geschickte Blocking am trostlosen Strand und im muffigen Hotelzimmer. Diese verschämte Zweisamkeit im Hotel und der daraus resultierende Konflikt am Strand mögen ein Produkt der Epoche sein, sie entstehen aber auch durch individuelle Erfahrungen und Bedürfnisse. Florence und Edward scheitern an einer fundamentalen Engstirnigkeit im Blick auf die Ehe, die in meinen Augen noch lange nicht überwunden ist, sondern auch von Kostümfilmen immer weiter aufrecht erhalten wird.
On Chesil Beach
(dt.: Am Strand)
2017
Regie: Dominic Cooke
Drehbuch: Ian McEwan
Schauspiel: Saoirse Ronan, Billy Howle, Samuel West, Emily Watson, Anne-Marie Duff, Adrian Scarborough
Kamera: Sean Bobbitt
Musik: Dan Jones
Bilder © 2018 Prokino Filmverleih GmbH