Ein paar nüchterne Fakten zu Anfang:
The Witcher ist ein dreiteiliges Videospiel der polnischen Spieleschmiede CD Projekt RED. Es basiert auf den Wiedźmin (zu deutsch: Hexer)-Romanen des Autors Andrzej Sapkowski. Es gehört ins Genre der Fantasy-Rollenspiele … so weit, so trocken.
Doch The Witcher ist sehr viel mehr. Nicht nur, dass es mit Preisen und Höchstnoten überhäuft und selbst eine einzelne, zusätzlich herunterladbare Nebenmission zum Rollenspiel des Jahres gekürt wurde. Nicht nur, dass der polnische Ministerpräsident Donald Tusk den zweiten Teil des Spiels offenbar als herausragendes Beispiel polnischen Erfindergeistes ansah und daher bei einem Besuch Ex-US-Präsident Barack Obama zum Geschenk machte. Nicht nur, dass Netflix auf den Franchise-Zug aufspringt und eine Serie produziert, die sich allerdings offenbar eher an den Büchern orientiert, auch wenn sie dabei natürlich den aktuellen Hype um die Spiele nutzt.
Aber was macht das Witcher-Universum so außergewöhnlich?
In dieser Welt mischt sich klassische Fantasy – Elfen und Zwerge, Drachen und Zauberinnen, Könige und Monster – mit bedrückendem Realismus. Kriege werden geschlagen, doch die Beschreibungen bleiben hier nicht vage. Man sieht die gehängten Deserteure in den Bäumen, man hört die Berichte über plündernde, brandschatzende, schändende Soldaten. Die Intrigen der Zauberinnen bei Hofe haben blutige, in aller Deutlichkeit dargestellte Konsequenzen für die Beteiligten. Die Elfen in dieser Welt sind nicht ätherisch schön, sondern ein rassistisch verfolgtes, versklavtes und geschundenes Volk, das im Untergrund terroristische Widerstandszellen formiert. The Witcher ist keine Gewaltorgie, aber es lässt nichts aus und beschönigt auch nichts. Die Teile zwei und drei gehören beispielsweise zu den wenigen Spielen auf dem Markt, die vor (einvernehmlich) sexuellen Szenen nicht beschämt die Schwarzblende einsetzen oder hastig auf die neben dem Bett stehende Topfpflanze fokussieren.
Worum geht es?
Die Spielereihe folgt dem Protagonisten Geralt von Riva, dem titelgebenden Hexer, der als Kind seinen Eltern fortgenommen und der sogenannten Kräuterprobe unterzogen wird, einem grausamen Ritual, das seine Gene mutieren und ihm die typischen Hexerkräfte verleihen soll. Nur einer von fünf Jungen überlebt die Prozedur überhaupt. Bei Geralt bewirkt sie die Veränderung seines Äußeren; seither hat er gelbe Katzenaugen und schlohweißes Haar. Er wird unfruchtbar und verliert einen Großteil seiner Emotionen, doch er erlangt unter anderem die Fähigkeit, Feuer aus seinen Händen schlagen zu lassen oder seine Gegner mental zu manipulieren. Seine Aufgabe ist fortan, die Welt von Monstern zu befreien – als reine Dienstleitung, versteht sich, für jene, die sich einen Hexer leisten können.
Und Geralt ist gut, so gut, dass bald Adlige und Könige auf ihn aufmerksam werden. Auch wenn er eigentlich nur seinen Job machen und dabei die berühmte Hexer-Neutralität wahren will, kann er nicht verhindern, dass man ihn immer häufiger für eigene Zwecke benutzen will.
Geralt wird in den Spielen und Romanen nie als besonders gerissen oder verschlagen dargestellt. Er ist ein Mann der Prinzipien, der vor allem anderen seine Ruhe haben will. Darüber hinaus hat er eine Schwäche für Zauberinnen, emanzipierte, willensstarke Persönlichkeiten, die ihn scheinbar spielend leicht manipulieren und ausnutzen können.
Genau das macht für mich den Reiz dieses Charakters aus. Er ist eine spannende Mischung aus einem Opfer der Umstände und einem sich bewusst einsetzenden Kämpfer. Aus einem loyalen Freund und einem grummeligen Einsiedler. Einem Berufszyniker und jemandem, der sein Herz schnell verliert, aber seine Gefühle seit der Kräuterprobe einfach nicht mehr ausdrücken kann.
CD Projekt RED garniert diese Vorlage mit unzähligen Szenen, die Geralt noch liebenswerter machen. Er wacht nach einer durchzechten Nacht nackt am Fluss auf und hat ein obszönes Tattoo am Hals, an das er sich nicht erinnern kann. Er tritt fahrenden Schauspielern bei und stammelt seinen Text mehr schlecht als recht (wie soll er auch, ohne Emotionen?). Er hüllt sich mit drei Hexerkollegen im Vollsuff in Frauenkleider und spielt das magische Äquivalent eines Telefonstreichs.
Geralt ist kein Mensch mehr, und doch einer der wenigen, wirklich menschlichen Figuren in The Witcher. Seine Aufgabe ist, Monster zu töten, doch ihm ist bewusst, dass die eigentlichen Monster weder Klauen noch Reißzähne haben.
Wie ist es?
Meiner Meinung nach schlichtweg und ohne Übertreibung das beste Spiel, das es derzeit gibt. Nicht nur optisch, denn The Witcher 3 wartet mit Bildern auf, die man allesamt rahmen und aufhängen könnte. Nicht nur atmosphärisch, denn man kann auf Geralts Reisen die salzige Luft des Meeres und den Gestank der Kanalisation schier riechen. Nicht nur akustisch, denn der Soundtrack bedient sich traditionellen, slawischen Instrumenten, mittelalterlich anmutender Folklore und langgezogenen Frauenkampfgesängen.
The Witcher überzeugt vor allem durch die gelungene Mischung aus kreativ-leichtfüßiger Fantasy und dunkler, blutiger Dokumentation charakterlicher Abgründe. Es erzählt Geschichten, die einen Tränen lachen lassen, und nur wenige Augenblicke darauf erschauert man ob des Schicksals traumatisierter Kriegswaisen, deren gesamte Familie vor ihren Augen gemeuchelt wurde.
Doch es gibt dabei ganz oft kein Schwarz oder Weiß. Auch die verfolgten Elfen greifen ihrerseits zu Lynchmethoden. Ein sympathischer, loyaler Charakter ist gleichzeitig religiöser Eiferer. Eine intrigante Ränkespielerin hat sich eben doch aufrichtig verliebt. Die ermordete Jungfrau reinen Herzens kehrt als blutrünstiger Rachegeist zurück.
Und auch Geralts Versuch, sich auf keine Seite ziehen zu lassen und seine Neutralität hochzuhalten, hat oft einen schalen Beigeschmack. Zum Beispiel, wenn er sich zwischen verbündeten Rittern und unterdrückten Elfen entscheiden muss, die mit gezückten Schwertern voreinander stehen und ihn fragen: „Wem hilfst du? Denjenigen, denen du Hilfe schuldest, oder jenen, die sie nötig hätten?“ Hält er sich raus, schlachten sich beide Parteien gegenseitig ab und erachten ihn fortan als Feind.
Dieses Dilemma, die ständige Janusköpfigkeit der Figuren und Dualität der Missionen verfolgt Geralt durch alle drei Teile, doch spätestens, als es dann auch für ihn persönlich wird, ist Raushalten keine Option mehr.
Leider wird es kein The Witcher 4 mehr geben, zumindest wohl nicht mit Geralt als Hauptfigur. Doch am Ende der Trilogie, nach hunderten Stunden Spielzeit, stellt sich die bittersüße Gewissheit ein, dass es dennoch richtig ist, ihn dort zu verlassen.
Oder, wie sein Freund Regis es formuliert:
We have witnessed – and, in fact, on several occasions incited – many great and weighty events. After all that toil, I believe we deserve a bit of a rest.