Gedichtinterpretationen waren zu Schulzeiten meine Achillesferse. Eine Erörterung konnte ich jederzeit mal eben aus dem Ärmel schütteln, doch in Gedichte interpretierte ich mit schöner Regelmäßigkeit so erstaunliche Aussagen hinein, dass selbst meine Lehrer über meine Fantasie staunen mussten. Dabei tat ich nur, worauf ich jahrelang gedrillt wurde: auf Teufel komm raus irgendeinen Sinn im Geschriebenen ausmachen.
Man muss kein Autor sein, um zu ahnen, dass da ein riesengroßer Irrtum vorliegt, aber es ist einer, der einer Generation nach der anderen eingetrichtert wird. Schlimmer noch, Jahr für Jahr werden Bücher allein deshalb verschenkt, weil sie hochtrabende Literaturpreise gewonnen haben – nur um beim Empfänger ungelesen im Regal zu verstauben. Gute Literatur, so haben wir gelernt, muss bedeutungsvoll sein, schwer zu lesen und relevant. Relevanz ist in Bezug auf Bücher ein ganz furchtbares Attribut, denn es sagt nichts anderes aus, als dass Bücher, die keine Meinung zum Zeitgeschehen, zur Unterdrückung der Frau, zur Weltwirtschaftskrise oder zur Klimakatastrophe haben, keine Existenzberechtigung haben. Weil sie nur unterhalten wollen.
Unterhaltung! Was für ein niederes Anliegen! Kein Mensch macht sich solche Gedanken, wenn er sich den neuesten Blockbuster im Kino ansieht oder sich eine schmalzige Arztserie reinzieht. Wieso also ist es für Bücher so ein Verbrechen, uns unterhalten zu wollen? Aus Sicht des Autors ist das der einzig gute Grund, sich die Mühe überhaupt zu machen. Die wenigsten wollen die Welt verändern, sondern haben einfach eine Idee für eine spannende Geschichte. Oder müssen die Miete bezahlen, auch das gibt’s.
Es ist ohnehin reichlich eingebildet, wenn Autoren meinen, ihre Leser könnten aus ihren Büchern etwas lernen. Womöglich erfahren sie etwas mehr über ein Thema, mit dem sie sich vorher noch nie befasst haben, aber die Lektüre wird dadurch wohl kaum ihr Leben verändern. Im besten Falle regen Bücher zum Nachdenken an, zum Hinterfragen des Ist-Zustands. Das ist zum Beispiel auch der Grund, warum ich das Genre Science-Fiction so liebe. Viele Bücher kann man einfach als spannende Abenteuer auf fremden Planeten lesen, oft ist darin aber ein Kommentar zur realen Welt versteckt. Wird ein Thema berührt, das auch in unserem eigenen Leben gerade wichtig ist. Das macht den Reiz von Dystopien aus – sie üben Kritik an der Gegenwart, während sie gleichzeitig unterhalten.
Ich selbst habe vergleichsweise wenig Ambition, dem Leser irgendeine Moral aufzudrängen. In „Die Detektelfe“ geht es um eine Elfe, die Katzen hasst, raucht wie ein Schlot und dabei komische Verbrechen aufklärt. Dass sich hinter den Kulissen ein handfester Krieg zwischen den Menschen und der Märchenwelt ankündigt, erleben die Leser durch die Augen einer Frau, die nicht direkt beteiligt ist und viele Zusammenhänge auch nicht versteht – ein etwas schwacher Versuch, meine eigene Beziehung zur Politik zu veranschaulichen. Und wenn meine Heldin in „Dhenari“ einen Menschen tötet und an der Erfahrung schier verzweifelt, weil ihr Lehrer nicht schnallt, dass er mit ihr darüber reden sollte, dann sorgt das für Drama, aber wohl kaum für den großen Aha-Moment beim Leser. Übrigens, mein aktuelles Projekt handelt von Leuten, die Bücher real und körperlich erleben können – eine Metapher für die Macht der Worte. Oder einfach ein spannendes Abenteuer quer durch die Literatur.
Auch zu diesem Thema habe ich kürzlich ein Video gemacht, in dem ihr euch meine Thesen noch mal komprimiert in zweieinhalb Minuten anhören könnt:
1 comment
Es ist allerdings so, dass Literatur, ob die Autorin es will oder nicht, immer eine Aussage hat. In einem Roman drückt sich immer eine Weltsicht aus, er ist immer Produkt einer Einstellung, Kultur, Zeit oder Sehnsucht. Einfaches Beispiel: Ein Happy End verrät eine andere Philosophie als der plötzliche Tod des Protagonisten. Nur sind sich einige Autor_innen dessen mehr bewusst als andere und setzen es dementsprechend ein. Wobei eine allzu deutliche „Moral von der Geschicht“ ja nur selten passend ist. Fragen sind in den meisten Fällen aufrüttelnder als Antworten.
Ich persönlich kann jedenfalls ums Verrecken nicht nachvollziehen, wenn man tatsächlich nur liest, um die Zeit totzuschlagen. Unterhaltung und eine interessante Perspektive (sie muss ja nicht mal übergreifend relevant sein, auch das komplett Subjektive ist spannend) schließen sich schließlich nicht aus. Ich möchte, dass nach einem Roman ein klitzekleines neues Türchen in meinem Kopf geöffnet ist. Alles andere ist für mich sinnlos.