Gestern am Morgen schrieb ich hier noch, dass man das Kino nicht neu erfinden könne. Am Nachmittag sah ich dann Loving Vincent und musste eingestehen: Schwachsinn! Auch nach über 100 Jahren Film sind längst nicht alle Techniken, alle Möglichkeiten der Vermittlung von Raum und Zeit, der Erfahrung filmischer Realitäts- und Lebensvermittlung ausgeschöpft, auch wenn der konventionelle Film das glauben macht. Aber ausgerechnet der oft als Kinderkram verschriene Animationsfilm lotet immer wieder die Grenzen des Vermittel- und Darstellbaren aus.
Loving Vincent, der in Ölgemälden vom mutmaßlichen Selbstmord Vincent van Goghs erzählt, erfindet zunächst mal das Biopic neu. Er nähert sich seinem Objekt, Vincent, durch die Form. Der Film stellt die Welt dar, wie van Gogh sie spürte und auf die Leinwand brachte. Wahrscheinlich ist noch kein anderes Biopic der subjektiven Weltsicht seines dargestellten Künstlers so nah gekommen. Dabei versteht die inhaltliche Ebene sehr gut, dass ein Mensch vielgestaltig ist, dass man ihn nur von außen einfangen kann, durch den Blick Bekannter und Freunde, die völlig unterschiedliche Eindrücke und Interpretationen der Person liefern können. Dieser Vincent ist widersprüchlich und bleibt bis zum Schluss unerklärlich (vor allem sein (Selbst)Mord, der im Film durch Zeugenaussagen aufgeklärt werden soll, was ihn sogar noch zu einem Krimi macht). Es gibt nichts Objektives in dem Film: „[I]t continues to emphasize that its intense, immersive landscapes are, after all, only subjective. The mind and body to whom they belonged is long gone, and the access we have to it is heavily mediated, incomplete, and speculative.“ (Marta Figlerowicz für die Los Angeles Review of Books) Statt also einer Erklärung eines Lebens in überschaubaren Stationen, bietet der Film etwas viel Wahrhaftigeres: ein Miterleben der Kunst im Akt der Schöpfung.
Jeder Moment eine neue Welt
Loving Vincent ist wie ein in Zeitraffer gemaltes Bild, das vor unseren Augen entsteht und erst nach eineinhalb Stunden die finale Version erreicht. Die Pinselstriche werden von Geisterhand gesetzt, sind aber in van Goghs Manier so deutlich abgesetzt, dass die Hand mitgedacht werden muss. Der Film verschleiert seinen Entstehungsprozess nicht, er ist vielmehr sein Zeugnis. Die Bilder werden nicht wie beim Zeichentrickfilm ausgetauscht, sondern immer und immer wieder übermalt, sodass selbst die Hintergründe sich dauernd wandeln, nicht nur an den Rändern der sich bewegenden Figuren, die natürlich immer wieder ausgebessert werden müssen. Aber auch Lichter glimmen, Wolken ziehen, Kleidung scheint permanent zu fließen. Diese dauernde Veränderung wäre nicht immer nötig, aber sie macht die besondere Bewegungsästhetik des Films aus. Die Bewegungen fließen und doch nimmt man jeden neuen Pinselstrich einzeln wahr. Und jeder neue Pinselstrich bedeutet einen neuen Moment, ein neues Bild, eine neue Perspektive auf die Szenerie, eine neue Welt. Jede Zwölftelsekunde (die Sekunde Film besteht hier aus zwölf Einzelbildern) ist ein Bild für sich und Bewegungen der Figuren durch den Raum lösen ganz besondere Umwälzungen der Perspektiven in den Gemälden aus. Als ich aus dem Kino kam, sah ich die Welt mit anderen Augen. Jeder Moment ist ein Kunstwerk, jede Bewegung eine Neujustierung der Realität – im Film wie im Leben. Insgeheim denkt jeder klassische Animationsfilm (oder: jeder Film) das mit, aber es brauchte erst grobe Pinselstriche, um diese Wahrheit so deutlich erkennbar zu machen.
Davon abgesehen sind die Gemälde, die abstrakte Landschaftsdarstellungen mit exakter Figurenzeichnung vereinen, absolut erstaunlich. Die Gesichter sind ihren Schauspielervorbildern verblüffend ähnlich, natürlich und doch stilisiert. Die immer weiter aufgehäuften Ölfarben haben eine Haptik, die ihnen noch ein weiteres Eigenleben zu schenken scheint. Die Gesichter plätschern in kleinen Wellen über die Leinwand. Mir persönlich gefällt van Goghs farbenprächtiger Stil nicht besonders und trotzdem war ich überwältigt von dieser trägen Technik in Bewegung. So was hat man noch nicht gesehen! So habe ich Zeit und Raum im Film noch nie erlebt. Und es hat mir im Herzen wehgetan, Beschwerden darüber zu lesen, dass dieser Film nichts Spannendes erzähle. Das ist nicht der Punkt. Filme sind nicht ausschließlich dazu da, Geschichten zu erzählen. Warum misst man außergewöhnliche Filme an den Standards konventioneller Filme? Sollte es nicht umgekehrt sein? Filme wie Loving Vincent sind in meinen Augen nicht die Ausnahme von der Regel. SIE SIND FILM. Alles andere ist nur Malen nach Zahlen.
Loving Vincent
2017
Regie: Dorota Kobiela, Hugh Welchman
Drehbuch: Dorota Kobiela, Hugh Welchman, Jacek Dehnel
Schauspiel: Douglas Booth, Robert Gulaczyk, Eleanor Tomlinson, Chris O’Dowd, Jerome Flynn, Helen McCrory
Kamera: Tristan Oliver, Lukasz Zal
Musik: Clint Mansell
Bilder © 2017 Loving Vincent Sp.z.o.o. & Loving Vincent Ltd.
5 comments
Den will ich auch unbedingt sehen. Sieht spannend aus. Und jetzt lese ich gerade, das Clint Mansell für die Musik verantwortlich zeichnet. Noch ein Grund mehr…
Ja, ist ein schöner Score. Ein bisschen zurückhaltender als sonst, trotzdem deutlich hörbar Mansell. Versuch ihn doch noch im Kino zu erwischen. Ich denke, bei dem Film macht es ausnahmsweise wirklich einen Unterschied.
Kommendes Wochenende läuft der hier. Wird also noch was. 🙂
Bei uns im Kino sind 2 Frauen während des Filmes raus, nach eigener Aussage war denen vom Geflackere des Films schwindelig geworden…
Na ja, die Neuerfindung des Kinos fordert eben die Sehgewohnheiten heraus. Daran muss man sich erst gewöhnen. Das ist erst mal anstrengend, lohnt sich aber.