Dies ist keine Bestenliste. Bestenlisten sind böse. Denn die Qualität komplexer Kulturprodukte lässt sich nicht empirisch messen, nicht wie Temperatur oder Geschwindigkeit bestimmen und mit skalierter Abstufung bewerten. Man kann sie vielleicht gewissen Erwartungen und Mustern unterwerfen, beispielsweise ihren Unterhaltungswert beurteilen, was die Einschätzung aber noch lange nicht objektiv oder standardisierbar macht. Das einzige allgemeingültige Versprechen, das Serien und Filme erfüllen müssen, ist, dass sie rein technisch rezipierbar, also abspielbar, sehbar, hörbar sind. Die beste Serie ist also die, die einwandfrei läuft. Daneben ist es völlig sinnfrei, Serien gegeneinander auszuspielen, sie wie Sportler um die Medaille konkurrieren zu lassen, als wäre die Leistung völlig unterschiedlicher Serien auch nur ansatzweise vergleichbar – als müssten Serien überhaupt Leistungsnormen erfüllen. Als ob die Entscheidung, ob man nun die eine oder die andere Serie einen Hauch mehr liebt, irgendetwas ändern würde.
Was folgt, sind also nicht die besten Serien(staffeln) des Jahres. Es sind nicht mal ausschließlich Produktionen aus diesem Jahr. Ich habe sie alle dieses Jahr zum ersten Mal gesehen und das ist für den meinen Eindruck doch entscheidender als das Jahr, in dem sie zuerst gezeigt wurden. Vielleicht würde ich sie sogar meine Favoriten des Jahres nennen. Aber was heißt das genau? Für mich heißt das schlicht, dass ich sie wiedersehen will. Dass sie einen solch positiven Eindruck hinterlassen haben, dass ich mich überhaupt an sie erinnere, dass sie mir etwas mitgegeben haben – eine Erinnerung, eine Empfindung, eine Einsicht.
Und dies ist einzig und allein ein Dokument dieser Eindrücke – und eine Ode an das Format Serie. Denn während mein Filmkonsum 2017 ziemlich dürftig war, habe ich 42 Serienstaffeln gesehen (plus einige abgebrochene), so viele wie noch nie. Ich weiß nicht, wie ich ohne Serien das Jahr überstanden hätte. Dabei boten sie natürlich auch Eskapismus – indem die ausgebreiteten Probleme fiktiver Menschen meine eigenen kurz beiseite schoben, und zwar intensiver und ausdauernder als Filme es können. Das Fenster, das Serien in eine andere Welt bieten, ist größer als bei Filmen und damit manchmal vielleicht auch ein genauerer Spiegel. Aber wie bei Filmen ist meine Erinnerung an Serien sehr selektiv. Ich erinnere mich an grobe Gesamteindrücke und an Momente. Diese Momente haben aber in Serien einen ausladenderen Kontext, sie werden stundenlang vorbereitet, und gerade Kulminationspunkte können so unvergleichlich erleichternd oder erschütternd sein.
Hier sind also die Serienmomente, die die vielen, vielen anderen „Fernseh“-Stunden überstrahlten, die sich mit mir verbunden haben, die mich verblüfften, herausforderten oder mir Mut machten:
Die Beunruhigenden
Mr. Robot:
Staffel 3, Folge 6 – „eps3.5_kill-pr0cess.inc“
Eine Serie, die unsere Welt erklärt, aber dies so heruntergebrochen tut und auf wenige Parteien reduziert, dass sie Komplexität durch stilistische und erzählerische Spielereien herstellen muss. Immerhin: Man weiß wirklich nie, wie die nächste Folge sein wird. Da wäre diese Fake-One-Take-Folge, in der der Evil-Corp-Tower von Demonstranten überrannt wird, und die nicht nur Druck und Chaos sehr gut einfängt, sondern sich wunderbarerweise eine halbe Stunde lang scheinbar ununterbrochen auf das außerirdische Gesicht Rami Maleks konzentrieren kann. Allein für dieses Gesicht (und die dazugehörige Ennui-Stimme) folge ich Mr. Robot überall hin. Es ist ein Gesicht, das niemals neutral ist und durch die kleinste Regung die Welt verändert. Ich bin diesem Gesicht völlig verfallen, weil es unvergleichlich ausdrucksstark und dabei ganz klar ist. Zum Glück studiert die Kamera es oft genug in Großaufnahme. Die Fake-One-Take-Episode ist also nervenzerrend (zumindest Elliots Teil), aber erschütternder ist die Folge darauf, als die Welt in die Luft fliegt, obwohl Elliots innerer Konflikt zwischen militantem und gewaltfreiem Aktivismus für den Moment Frieden schließt, um sie zu retten. Die Welt wird von Monstern bespielt, die ihre persönlichen kleinen Fehden an Millionen Menschenleben auslassen. Glaubt man, mit einer mutigen Handlung das eine Monster anzugehen, spielt man nur einem anderen in die Hände. Nicht mal ein Genie kann die Welt retten. Autsch.
Alias Grace:
Folge 6 – „Part 6“
Grace findet Frieden: einen Mann, der gut zu ihr ist, und ein gemütliches, vergleichsweise selbstbestimmtes Leben. Sie näht sich ihren ersten eigenen Quilt und ihre Lebensgeschichte hinein. Und dann schaut Sarah Gadon mit ihrem verschleierten Blick ein letztes Mal in die Kamera und uns wird bewusst, dass wir sie nach viereinhalb Stunden, in denen wir ihren Gedanken als Voice-over lauschen konnten, immer noch nicht kennen. Dabei ist weniger beunruhigend, dass ihre Schuld am Mord unklar bleibt, sondern dass ihre ganze Person auf Rollen basiert, die sie stets den Erwartungen ihrer (männlichen) Gegenüber anpasst. Sie lügt, weil es ihre einzige Chance auf ein gutes Leben ist. Die eiskalte Perfektion dabei ist es, die erschauern lässt – angesichts des unschuldigen, schönen, entrückten Gesichts von Sarah Gadon. Man fragt sich, welchem sinnvollen Zweck ihre Talente hätten dienen können – statt nur dazu, ihr wahres Wesen zu verschleiern.
Die Herausfordernden
The Crown:
Staffel 2, Folge 5 – „Marionettes“
Ich mochte die erste Staffel, aber die Geschliffenheit und Stärke der zweiten Staffel hat mich trotzdem völlig umgehauen. Jede Folge sagt etwas über die Tragweite von Entscheidungen einflussreicher Individuen und über öffentliche und private Personae aus und trägt damit zum Gesamteindruck bei, kann aber problemlos für sich stehen. Denn jede Folge ist ein kleines, dramaturgisch perfektes Meisterstück des Krisenmanagements. Ein Paradebeispiel dafür ist „Marionettes“, zumal die Folge auch mal erfreulicherweise über den Tellerrand des Palastes hinausschaut und einen vergleichsweise gewöhnlichen Bürger in die Handlung einbezieht und damit noch mehr auf die Durchschlagkraft individueller Handlungen baut. Journalist Lord Altrincham echauffiert sich über das rückständige Verhalten der Königin und verändert schließlich die Monarchie. Wie in vielen Folgen wird der Fall aber von der Mitte her aufgerollt, vom Kulminationspunkt aus, der daraufhin in einer Rückblende erklärt wird, um schließlich auf die Lösung des Problems zuzusteuern. Es ist ein einfacher, aber effektiver Trick der Spannungserzeugung. Hier stellt sich der Kulminationspunkt aber als relativ absurdes Ereignis heraus, was rückblickend noch ein ironischer Wink Richtung Boulevardpresse und ihrem Aufbauschen nebensächlicher Ereignisse ist. Denn die Veränderung wird in einem ruhigen Moment in einem kleinen Büro im Buckingham Palace eingeleitet, von dem die Presse nie erfuhr – also nicht durch die Schimpftirade (die brachte nur die Aufmerksamkeit), sondern durch gemeinsame Interessen und rationale Verbesserungsvorschläge. Schließlich geht es auch irgendwie um das Internet und eine Ode an die konstruktive statt destruktive Kritik, die, wenn zugelassen, neue Blickwinkel eröffnet. Es ist eine unterhaltsame, amüsante und relevante Folge und Claire Foy als durchschnittlicher Mensch, der überdurchschnittliche Intelligenz und Charme beweisen muss, ist wie immer eine gefasste Wucht.
Mindhunter:
Staffel 1, Folge 1 – „Episode #1.1“
Die erste Staffel Mindhunter ist so sehr aus einem Guss, dass wenige Einzelmomente herausstechen. Natürlich, die Befragungen aller (möglichen) Täter sind allseits das reinste Schauspiel. Diese Serie fordert immer wieder Intellekt und eigenes moralisches Gespür heraus, indem sie sich auf eine Stufe mit dem Zuschauer stellt und seine Fragen und Skepsis oft vorwegnimmt. Und das beginnt bei der ersten Folge, die mich vollkommen überrumpelt und verblüfft hat, weil klar wird, dass hier weniger eine Geschichte erzählt, sondern Ideen entwickelt werden. Die Dialoge müssen dadurch nicht permanent die Handlung voranbringen, sondern arbeiten sich an Positionen und Fragen ab, die sich im Lauf der Folgen wandeln. Wir folgen nicht weniger als einem Paradigmenwechsel der Vorstellung der menschlichen Psyche. Und der Weg dorthin findet über Worte statt: fragende Worte, Worte als Experiment, Worte der Überzeugung. Es ist eine Ode an die Neugier. Und Neugier ist schließlich das Aufregendste, was es gibt. Nach der Folge erkannte ich: Wow, ich habe ein Hirn. Und dann ist da noch der netteste FBI-Agent seit Dale Cooper. Der Schlussdialog der Folge ist typisch für das unterhaltsame Understatement der Serie: „Do you have a girlfriend?“ – „I do now, Bill, as it happens.“ – „Okay. So next time you’re a long way from home and you flip your shit, you find a pay phone and you tell it to your girlfriend. How does that sound?“ – „It sounds okay, Bill.“
Die Erstaunlichen
Twin Peaks:
Staffel 3, Folge 8 – „Part 8“
Fragt mich nicht, was hier los ist. Aber es ist wunderschön. Zuerst wird der böse Coop von THE Nine Inch Nails aus dem Jenseits gesungen (mit einem langweiligen Song, aber andere haben die ja nicht mehr). Dann kommt in surrealen Sequenzen durch die Atombombe das ungreifbare Böse in die Welt (oder?). Dann wird das zerbrechliche Gute dagegengesetzt (oder?). Aber das Gute kann so leicht kontaminiert werden (oder?). Ich weiß nicht, was das alles bedeutet, aber es sind Momente sublimer Schönheit: die Kamerafahrt in den schwarz-weißen-Atompilz, mit panisch kreischender Musik unterlegt, das folgende abstrakte Bildgewitter, die gespenstische Tankstelle, der Riese, der als Antwort eine güldene Laura-Palmer-Kugel erschafft und via Pfeife in die Welt lässt, Got a light? Das sind Bilder, die einen jenseits der Ratio auf einer ganz tiefen Ebene angreifen. Das kann nicht jeder. Auch das Ende der Staffel liebe ich sehr: Für die einen Zeichen der Unabwendbarkeit allen Übels, für die anderen im Gegenteil Triumph über das Böse. Cooper will Laura Palmer retten und damit (rückwirkend?) alles wieder gut machen. Gerade diese uneindeutig aufgelöste Rückbesinnung auf den einst alles auslösenden Konflikt finde ich einen perfekten Abschluss.
Legion:
Staffel 1, Folge 7 – „Chapter 7“
Fragt mich nicht, was hier los ist und an welchem Punkt der Handlung diese Folge einsetzt. Legion ist definitiv die abgefahrenste Serie, die ich dieses Jahr gesehen habe – ein bisschen zu abgefahren, für meinen Geschmack, weil darunter die Figuren leiden. Alle sind irgendwie quirky und verkorkst und das wars. Aber diese Folge ist ein Beispiel der überschäumenden Kreativität der Verantwortlichen – in verständliche Bahnen geleitet. Die Orte sind fast ausschließlich mentale Räume, aber es ist die große Erklärfolge, in der endlich herausgefunden wird, wer eigentlich der Bösewicht ist (ein mentaler Parasit – klar) und wie er zu bekämpfen ist. Wenn ich (hinterher) das Ziel erkenne, kann man mich mit den irrsten Szenen bewerfen, ich bin dabei! Und wie die Hintergrundgeschichte unseres Helden in animierten Tafelzeichnungen nacherzählt wird, ist etwas für mein Animationsfilmherz. Best origin story ever! Szenen in Superzeitlupe sind immer cool und ich liebe das X-Men-Franchise ja schon lange dafür, dass es neben den großen Zerstörungsorgien immer wieder vor allem Kämpfe zwischen Psychen und Überzeugungen austragen lässt.
Die Aufmunternden
Big Little Lies:
Staffel 1, Folge 5 – „Once Bitten“
Big Little Lies fängt als Serie MIT weiblichen Klischees an und entwickelt sich schließlich zu einer Serie ÜBER weibliche Klischees – über Frauen, die sich ihre Rollen als Schutzschild bauen, um in Gesellschaft und Beziehung leichter zu bestehen. Und natürlich ist es befriedigend, als sich zum Schluss diese feindselig gestimmten Frauen, die permanent gegeneinander arbeiten und doch alle mehr oder weniger dasselbe wollen, zusammenschließen gegen den Vergewaltiger und misshandelnden Ehemann. Aber dass weibliche Solidarität ein Grundstein für Veränderung sein kann, zeichnet sich bereits früher ab. Es sind die kleinen Momente: Sie gehen zusammen joggen. Es ist eine wunderbare kleine Szene: Jane rennt alleine los, die Musik übernimmt die Tonspur und von hinten gesellen sich unvorbereitet Celeste und Madeline dazu. Die drei Frauen rennen und ihr Leben – aber gemeinsam.
The Handmaid’s Tale:
Staffel 1, Folge 9 – „The Bridge“
The Handmaid’s Tale ist wahrscheinlich die politisch relevanteste Serie des Jahres. Wie genau und beängstigend sie gegenwärtige Zustände weiterspinnt, darüber wurde andernorts genug geschrieben. Sie ist gruselig, vielleicht umso mehr, weil sie so honigklebrig inszeniert ist, und gehört insgesamt natürlich eher in die Kategorie des Beunruhigenden. Aber gerade weil die Situation für die Frauen in Gilead so aussichtslos ist, sind die hoffnungsvollem Momente umso kraftvoller, die Momente des Zusammenhalts, der Unterstützung. Mein liebster ist der um das Päckchen, das nach rationalem Zögern doch noch irrationalerweise von Junes Freundin an sie geschleust wird, ohne zu wissen, was es enthält und wie es die Situation verbessern kann. Es ist getragen von der Überzeugung, dass Aufgeben keine Option ist, dass jede kleine Aktion besser ist als nichts. „You keep your fucking shit together and you fight!“
The Marvelous Mrs. Maisel:
Staffel 1, Folge 8 – „Thank You and Good Night“
Zwei oberflächlich betrachtet konträre Frauen lachen und betrinken sich über das Fehlverhalten der einen statt sie niederzumachen – und zwar so dreckig, dass Rory Gilmore im Boden versinken würde: „We’ll be walking like cowboys for a week. That’s how fucked we are.“ Und zum Schluss bekommt der doofe, egoistische Ehemann die Rache, die alle doofen Männer verdienen: öffentliche Erniedrigung. Und zwar durch weiblichen Witz und das Talent, das ihm selbst fehlt. Triumph!
The Girlfriend Experience:
Staffel 2, Folge 10 – „Living Like a Tornado“
Nach der doch vergleichsweise konventionell inszenierten und erzählten Staffel 1 findet die Serie in Staffel 2 zu einer ganz eigenen, fast frustrierend kühlen und distanzierten Form. Und trotz der Kürze der beiden parallel erzählten Handlungen geht es noch deutlicher um die Verstrickungen von Sex und Geld und wie sie als Machtinstrument eingesetzt werden können. Spannend wird es aber erst, als die Mächtigen Schwäche zeigen und umgekehrt. Die beiden Geschichten treten je vier Folgen erst mal etwas auf der Stelle – bis es den beiden Frauen zu blöd wird und sie sich gegen diejenigen richten, die sie lediglich ausnutzen und ihre Bedürfnisse nicht anerkennen. Besonders Rias aufregende Selbstermächtigung unter repetitiver Musik ist spannend und unberechenbar. Es ist eine absurde Folge, in der Situation und Verhalten ausnahmsweise komplett auseinanderdriften und die Karten neu gemischt zu werden scheinen. Der endgültige Befreiungsschlag gelingt zwar erst in der finalen Folge, aber Entschluss und Mut werden hier gefasst.
Die Bestätigenden
Halt and Catch Fire:
Staffel 4, Folge 10 – „Ten of Swords“
Während ich es unfair finde, dass meine Lieblingsfigur (der wie immer tollpatschig-nerdige stille Held Scoot McNairy, der aber zu nett ist, um jemals wirklich im Mittelpunkt zu stehen) die letzten beiden Folgen nicht miterleben darf, nur damit für die anderen die große Versöhnung eingeleitet werden kann, bin ich froh, dass dadurch immerhin die beiden ungleichen Heldinnen wieder zueinanderfinden. Das Großartigste an dieser Serie ist nämlich diese leider zu seltene Freundschaft zweier völlig unterschiedlicher, auf ihre jeweilige Weise genialer, getriebener Frauen, die nach einigen Staffeln nicht mehr sein durfte. Warum, habe ich nie ganz verstanden. Jedenfalls hält Donna diese großartige Rede über und an Tech-Frauen, sie und Cameron erkennen sich wieder gegenseitige als Muse an und dann hat Donna eine Idee. Natürlich wird diese die beiden auch nicht dauerhaft glücklich machen (wie sie selbst eine Szene früher in einem schönen hypothetischen Durchspielen ihrer Zukunft erkennen), weil nur das Suchen und Entwickeln sie glücklich macht. Aber für diese Getriebenen ist tatsächlich der Weg das Ziel und es ist vor allem entscheidend, mit wem man ihn geht.
Anne with an E:
Staffel 1, Folge 5 – „Tightly Knotted to a Similar String“
Anne with an E ist wundervoll: Es ist schnuckelig und herzerwärmend, ohne die harten Zeiten den Lebens außen vor zu lassen oder in den Hintergrund zu drängen. Anne ist ein besonderes Mädchen und sie hat es nie leicht im Leben. Aber letztendlich gewinnt sie tatsächlich die Menschen durch ihr unkonventionellen Wesen für sich, durch ihre Intelligenz und ihre Fantasie. Und die geniale Amybeth McNulty (was für ein Name!) lässt alle Enttäuschungen, Niederlagen und die kleinen und größeren Triumphe Annes hautnah miterleben. Es ist schier unerträglich, man möchte alle fünf Minuten abwechselnd lachen oder weinen. Anne ist ein wandelndes Mem und ich liebe sie. Die Serie spielt in einem Land vor unserer Zeit, aber sie trifft trotzdem präzise die anscheinend zeitlose Erfahrung eines Teenager-Mädchens, die irrationalen Regeln der Cliquen und den Weltuntergang durch jedes unvorhergesehenes Ereignis. Wie Anne in ihrer überemotionalen Art glaubt, zu sterben, als sie ihre Tage bekommt („This is a waking nightmare!“ – aber echt!) und in der Schule Angst hat, dass man es sieht – herrlich und so wahr. Klar, es ist eine Wohlfühlserie, aber doch oft so viel realistischer als andere Kostümserien und dadurch näher am allgemein Menschlichen, das uns heute auch noch was angeht.
Die Abschließenden
The Young Pope:
Staffel 1, Folge 9 – „Episode 9“
Diese Serie ist mäandernd, meditierend, flüchtig und leichtfüßig und doch mit den wichtigen Fragen des Lebens belastet. Sie ist melancholisch und doch eine Feier des Lebens, absurd und doch ganz zielgerichtet. In der Mitte steht ein arroganter, kindlicher, mächtiger Mensch, der sich mal gütig, mal harsch zeigt, mal voller Liebe, dann voller Zweifel ist – ein faszinierender, widersprüchlicher Mensch, greifbar gemacht durch den wunderbar blasierten Jude Law in der Rolle seines Lebens. Aber die Folge, die mich völlig umgehauen hat, schiebt diesen merkwürdigen, entrückten Papst teilweise beiseite und widmet sich einem ganz realen Thema: dem mühsamen Überführen eines Kinderschänders. Es ist eine dementsprechend hoffnungslose, aber sanfte Folge, die von der Müdigkeit der Aussichtslosigkeit und der Einsamkeit von Täter wie Opfern durchzogen ist. Und sie kulminiert in einer Träne, die für unheilbaren Schmerz („The point is the horror.“) wie für ungeahnte Erleichterung steht. Davor wird in Rom geistreich über Abtreibung diskutiert („Who gives a damn about life? Life is not some stupid centerpiece on the side table of nothingness.“), dazwischen werden Wunder vollbracht und der Mentor des Papsts verabschiedet, danach wird einer kleinen menschlichen Schwäche nachgegangen. Paolo Sorrentino erzielt mit jeder Szene maximalen emotionalen Effekt ohne pathetisch werden zu müssen. Momente wie die Kamerarotation in der Bar offenbaren Genies.
The Affair:
Staffel 3, Folge 5 – „305“
The Affair liebe ich schon seit der ersten Staffel, aber ich stehe eben auf emotionale Selbstzerfleischung. Es geht um Menschen, die das Heil in Beziehungen suchen und doch einfach nicht aus ihrer Haut können, geschweige denn in der Lage sind, sich von anderen Menschen retten zu lassen. Das müssen auch Alison und Noah einsehen und sich schließlich trennen. Aber in dieser Folge werden sie noch einmal aufeinandergeworfen, und besonders der impulsgetriebene Noah, der gern mal seine Probleme mit Sex verdrängt, zeigt eine Selbsteinsicht wie nie zuvor. Beide benennen die Dinge beim Namen, rational – ihre Traumata, ihre Fehler, ihre Gefühle, ihre Zukunft. Klar schlafen sie miteinander, aber das stellt nur die abschließende Klammer für ihre Beziehung dar. In einer Serie, die von der Unvereinbarkeit von Individuen und Wahrnehmungen erzählt, ist so ein kleines friedvolles Übereinkommen, eine offene Verständigung Balsam für die Seele.
4 comments
Kollegin, Sie dürfen alles, aber der Song von Nine Inch Nails war atmosphärisch und genauso großartig wie die gesamten zwei neuen EPs. Ich war regelrecht stolz, dass die Lieblingsband in DER Folge Twin Peaks war. Langweilig…püh. *lach* Mich erfreut es jedoch sehr, dass noch jemand anderes mit Anne Zeit verbracht hat. Ich empfand in der Serie oftmals den Umgang mit verschiedenen Thematiken erfrischend unstaubig kostümig. Und bei der Schönheit des Vorspanns möchte man weinen.
Kollegin, Atmosphäre gut und schön, aber doch nicht so eine monoton gleichbleibende! Andererseits finde ich ja, dass Reznor und Ross mit ihren genialen Fincher-Scores die Filmmusik revolutioniert haben. Da dürfen sie nebenher auch mal ein bisschen langweilen. 😉
Aber eingebettet zwischen den restlichen Songs, die teilweise schon ordentlich reinhauen oder creepy sind (Everyone seems to be asleep.) ergibt der Song einfach sind,
. Und der Teil, wo Trenti ein bisschen rumschreien darf, ist doch wunderbar. Ahaha, wahrscheinlich hättest du bei der Szene, wie Lynch es ja von jedem Zuschauer bei der Staffel gefordert hat, gute Kopfhörer laut aufhaben müssen.
Ich hatte mich damals bei den Oscars soo sehr für die beiden gefreut. Hätte niemals gedacht, dass so der Weg des Herrn Reznors aussehen wird.
Oh ja, immer noch der verblüffendste und befriedigendste Oscar-Gewinn überhaupt! Obwohl mir NINs neuere Sachen nicht mehr so nahe gehen, haben sie trotzdem eine beeindruckende Entwicklung hingelegt, ohne sich jemals auf ihrem Image auszuruhen.