Für mich gibt es zwei Sorten Lieblingsbuch: die einen, die meine Wahrheit abbilden (oder mir eine neue beibringen) und die anderen, die meine Erfahrung spiegeln. History of Wolves gehört zur letzten Kategorie. Ich glaube, ich habe noch kein anderes Buch gelesen, das mich so gut erklärt. Aber das wurde mir erst nach etwa 80% bewusst und das sagt bereits alles. Roman-Debütantin Emily Fridlund erzählt hier von einem Teenager, der mit den Eltern in einer Ex-Kommune in den Wäldern von Minnesota lebt und als Babysitterin bei der jungen Mutter jenseits des Sees anfängt, wo man ihr die Wärme schenkt, die ihr zu Hause fehlt. Aber auch diese Idylle ist trügerisch. Mehr darf eigentlich nicht verraten werden, denn die Geschichte ist erzählt wie ein Thriller: rückblickend mit Andeutungen und bröckchenweise, bis sehr spät endlich die kompletten Geschehnisse dastehen, denn es stirbt jemand. Diese Strategie nervt mich. Rück doch lieber gleich mit der Sprache raus und erklär dann, warum und wie genau. Weil die Geschichte so sehr auf die Wissbegier der Leserin baut, lädt sie auch leider nicht zum Wiederlesen ein – was eindeutig ein Kriterium für ein Lieblingsbuch ist.
Dabei ist es eine interessante Geschichte um fehlende Bindung, Einsamkeit und enttäuschende Autoritätspersonen, um Familie und Ideologien, die vor Mitmenschlichkeit gestellt werden – über die Auswirkungen von Glaube und Handlungen. Aber diese Geschichte wird von der Herangehensweise der Autorin erdrückt – durch die episodenhafte Rückblickstruktur und durch die Methode, Motivationen und Gefühle nur anzudeuten statt sie einfach zu benennen, weil die Leserin selbst darauf kommen muss. Sie spielt dadurch unnötig Tiefgründigkeit vor statt sie einfach auf den Tisch zu legen. Und dabei verstehe ich die Verschlossenheit der Ich-Erzählerin sogar sehr gut. Sie kann ihre Geschichte erzählen, aber nur oberflächlich, in Geschehnissen und Eindrücken, nicht entlang der Gefühle, die sie mit ihnen verbindet – ein Resultat ihrer Lebenssituation. Es ist selten, dass man irrationales Verhalten von Figuren nachvollziehen kann, weil man sich selbst in die Situation versetzen kann. Sich auf Papier selbst in den negativsten Eigenschaften ertappt zu fühlen, ist schmerzhaft, aber es liefert auch eine wohltuende Bestätigung der Selbstnarration, ein Spiegelbild als Ruheort für die eigenen Verwundungen.
I stood under scalding water in the shower for one magnificent minute, letting needles of water pluck open some feeling of woe, some feeling of desolation I hadn’t known I’d felt. A capsized feeling, a sense of the next thing already coming.
Aber macht zufällige Identifikation einen Roman besser? Reicht sie für ein Lieblingsbuch? Nein, ein Roman ist mehr als seine Protagonistin, mehr als seine Handlung. History of Wolves ist kein Lieblingsbuch, aber die menschlichen Konstellationen darin hätten die Möglichkeit geboten. Und die Autorin erschafft trotzdem durch die Augen der Protagonistin in einzelnen Szenen glaubhafte hoffnungslose, einsame Leben in einer Welt zwischen Wäldern und Seen, die selbst im Hochsommer eine distanzierende, unwirtliche Kälte ausstrahlt. Ich würde gerne eine Verfilmung von Lynne Ramsay oder Debra Granik sehen.
2 comments
Weil du Debra Granik erwähnst: Die Beschreibung des Buchs erinnert schon ein wenig an „Winter’s Bone“…
Ja, es gibt Parallelen, besonders was die Protagonistin anbelangt. Wobei das Milieu kein kriminelles ist. Aber eine Stimmung wie in Winter’s Bone kann ich mir gut für eine Verfilmung vorstellen.