Jugendstil ist der schönste Stil. Zumindest wenn es um Architektur geht. Nichts Bauliches ist bezaubernder als ein nutzlos schnörkelnder gusseiserner Balkon, gülden rankende Applikationen, käfighaft verwobene Vordächer, blühend bunte Szenerien, verblassende kräftig herbstliche Farben und geradezu giftiges Aufeinandertreffen von Gold und Türkis, das an die gefährliche Verführungskraft des Prunks gemahnt. Jugendstil erinnert an einen verlorenen Überfluss und Müßiggang, einen selbstvergessenen, sinnlichen Tanz im Petroleumschein, einen berauschend duftenden Spaziergang durch den verwesenden Garten Eden, an die Vergänglichkeit aller natürlichen Willkür, die vom geradlinig Maschinellen übergeholt wird. Es ist nicht der Pomp oder die florale Farbigkeit, die mich reizen, sondern die feingliedrige Unregelmäßigkeit der Linien, der etwas Lebendiges, Wucherndes anhaftet. Einem Jugendstil-Gebäude sieht man eine tanzende, zärtliche Liebe an. Da treffen harter Stein und unnachgiebiges Metall auf das Mäandern des Lebens. Man kann sich nicht sattsehen an den Details, die dennoch gezielt gesetzt sind.
Prag ist vielleicht nicht die Jugendstil-Hochburg Europas, aber zwischen den beeindruckend gut erhaltenen Straßenschluchten aus barocken und sonstigen Häusern tauchen immer wieder gülden und floral ziselierte Jugendstil-Fassaden auf. Als es mich also vor drei Wochen zum zweiten Mal nach Prag verschlug, konnte ich die bekannten Sehenswürdigkeiten links liegen lassen und mich ganz auf eine Jugendstil-Jagd konzentrieren. Und es war ein Fest! Ein Mal in meine Lieblingsepoche eintauchen und in einem der schwindelig schönen Jugendstil-Hotels nächtigen – ich könnte als glücklicher Mensch sterben …
Ein überschaubarer Spaziergang in der Neustadt reicht, um an einem halben Tag die Augen zu sättigen. Der Spaziergang beginnt im Bahnhof, in dem es bereits eine schöne Jugendstil-Halle gibt, die ich allerdings aus Unwissenheit über ihren Aufenthaltsort leider übergangen habe. Passt auf, dass euch das nicht passiert!
Nicht alle Gebäude, die ich besucht habe, bestehen von oben bis unten aus Jugendstil. Manche enthalten nur Elemente oder sind eher dem geradliniger strebenden Baustil des Art déco zuzuordnen, aber das Wichtigste ist: Alle sind wunderschön. Entschuldigt die schwankende Qualität der Fotos. Das Licht, ihr versteht. Und manche Linien wollten auch in der Bearbeitung nicht horizontaler werden. In Prag baut man wohl krumm.
Jugendstil und Art déco in der Prager Neustadt
Eigentlich unwirklich üppig-orientalisch, aber auch die Jerusalemsynagoge kommt in ihrem Stil-Mix nicht ohne Jugendstil-Elemente aus.
Da rankt sich bereits das künstliche Unkraut und die goldenen Elemente leuchten gegen die graue Fassade an.
Nicht konkret Jugendstil, aber das offen Maschinelle der strebenden Metallpfeiler erinnert dennoch daran.
Das streng Bürokratische von Art déco mit Spinnennetz über dem einen Eingang und der typisch kontrastreich türkis-goldene Bogen über dem anderen.
DAS Jugendstil-Gebäude in Prag mit einem überwältigend üppigen Baldachin-Eingang und innen herrlich glimmend und düster verführerisch.
Das Jugendstil-Fließen wird hier zu einem verschmelzenden Grauen und die Damen locken den Eintretenden zeitlos wie Sirenen.
Hartes Eisen zärtlich in Schwung gegossen.
Das schwungvolle, strahlend bunte Mucha-ähnliche Relief ist schier unfassbar und wird dabei noch beinahe von der türkis-blumigen Überdachung in den Schatten gestellt.
Pech. Aber man kann erahnen, welche vielfarbigen, rankenden Schätze sich unter der Verpackung verbergen. Vielleicht erstrahlen sie ja bald in neuem Glanz.
Das dekadente Gelb in Kombination mit beißendem Türkis und die etwas verschüchterte Blumenwiese daneben.
Die tropfenden Abschlüsse am oberen Rand über der leidenschaftlichen Szene und der von Ranken umschlossene Balkon mit Initiale.
Die golden umrahmte Schrift und die beiden Wächter neben dem Eingang.
Die Adressen (zum Nachlaufen):
- Jerusalemsynagoge: Jeruzalémská 1310/7, 110 00 Nové Město
- K + K Hotel Central: Hybernská 1001/10, 110 00 Nové Město
- Praha Masarykovo Nádraží: Havlíčkova 1014/2, 110 00 Nové Město
- Art Deco Imperial Hotel: Na Poříčí 15, 110 00 Nové Město
- Hotel Paris Prag: U Obecního domu 1, 110 00 Staré Město
- Obecní dům (Gemeindehaus): Náměstí Republiky 5, 111 21 Staré Město
- Jan-Hus-Denkmal: Staroměstské nám., 110 00 Staré Město
- ?: Široká 96/9, 110 00 Josefov
- Čechův most (Čech-Brücke)
- Prager Versicherungsanstalt: 1, Národní 1011/7, 110 00 Staré Město
- Topic-Verlag: 1, Národní 1011/7, 110 00 Staré Město
- U Nováků: Vodičkova 699/30, 110 00 Nové Město
- Grand Hotel Europa: Václavské nám. 25, 110 00 Nové Město
- Meran Hotel: Václavské nám. 825/27, 110 00 Nové Město
- Marc O’Polo: Václavské nám. 777/12, 110 00 Nové Město
- Dům u Dörflerů: Na Příkopě 391/7, 110 00 Staré Město
- Art Nouveau Palace Hotel Prague: Panská 897/12, 111 21 Nové Město