Fast 88 Jahre ist es her, dass Walter Benjamin (1892-1940), Philosoph und Kulturkritiker, sich am alten Hafen von Marseille herumtrieb. Der dazumal 37-Jährige schrieb mehrere Essays und veröffentlichte sie unter anderem in verschiedenen Zeitschriften. Mit 58 nahm er sich in Portbou das Leben.
Seine Texte über Marseille stammen aus der Zwischenkriegszeit, genauer gesagt verfasste er sie im Juli 1929. Nicht immer nüchtern, beging er Marseille unter dem Einfluss von Hasch und anderen Drogen, experimentierte gerne damit und berichtete in zwei Texten darüber. Benjamin verbrachte eine längere Zeit in Marseille, unter anderem mit dem Psychoanalytiker Fritz Fränkel, und schrieb in dieser kreativen Zeit, unter anderem auch auf Französisch, für die südfranzösische Zeitschrift „Les Cahiers du Sud„. Er bewegte sich unter Intellektuellen und nahm eine anti-orientalistische Position ein.
Ich entschloss mich, da Marseille am Heimweg lag, die Chance zu nutzen und seinen Spuren zu folgen – allerdings ohne die Einwirkung jeglicher Drogen.
Vieux Port
„Marseille – gelbes, angestocktes Seehundsgebiß, dem das salzige Wasser zwischen den Zähnen herausfließt. Schnappt dieser Rachen nach den schwarzen und braunen Proletenleibern, mit denen die Schiffkompanien ihn nach dem Fahrplan füttern, so dringt ein Gestank von Öl, Urin und Druckerschwärze daraus hervor. Der ist vom Zahnstein, der an den wuchtigen Kiefern festbackt: Zeitungskioske, Retiraden und Austernstände.“
Den Hafen, den Benjamin beschreibt, gibt es nicht mehr. An seiner Stelle traten durch stetige Modernisierungsmaßnahmen ein großer Hafen, der besonders für Touristen anziehend ist und von dem aus man die nahe gelegenen Frioul-Inseln sowie im Zuge der Fahrt das berüchtigte Château d’If besuchen kann. Auch ließen sich die Austernstände, von denen er spricht, an jenem Tag nicht ausfindig machen.
Benjamin geht weiter und beschreibt Marseille als defizitär, als eine Stadt die am Hafen lebt, unternimmt viele Spaziergänge und berichtet:
„Ich strich am Kai entlang und las einen nach dem anderen die Namen der Boote, die dort festgemacht waren. Dabei überkam mich eine unbegreifliche Fröhlichkeit, und ich lächelte der Reihe nach allen Vornamen Frankreichs ins Gesicht. Mir schien die Liebe, die diesen Booten mit ihrem Namen versprochen war, wunderbar schön und rührend. Nur an einem »Aero II«, das mich an Luftkrieg erinnerte, ging ich unleutselig vorüber, genau wie ich zuletzt auch in der Bar, aus welcher ich gekommen war, über gewisse, allzu entstellte Mienen mit den Blicken hatte hinweggehen müssen.“
Die Boote tragen mittlerweile unromantische Namen, deren Nummern vermutlich anderen Zwecken dienen, nur hier und da findet sich der eine oder andere klingende Name. Es sind geschätzt Hunderte an der Zahl, die im Hafen hin- und herwiegen. Und während ich von diesem oder jenem Schiff Fotos machte, brannte die Hitze auf meinen Kopf. Walter Benjamin erwähnt nichts davon. Weder schrieb er von der Hitze noch vom stetigen Wind, der durchaus in der Lage war, die Sonnenbrille vom Kopf zu pusten. Unter anderem auch ein ein Grund, warum das Château d’If an diesem und darauf folgenden Tag nicht angesteuert wurde.
Benjamin stammt aus einer bürgerlichen Familie aus Nordeuropa. Fasziniert, aber auch abwertend spricht er über das Volk und entwirft ein negatives Bild über die Stadt. Marseille als Sinnbild einer Hafenstadt, die von armen und marginalen Existenzen geprägt ist. Arbeiter, Huren, Schiffe – das alles identifiziert er mit Marseille.
„Das Hafenvolk ist eine Bazillenkultur; Lastträger und Huren menschenähnliche Fäulnisprodukte. Im Gaumen aber sieht es rosa aus. Das ist hier die Farbe der Schande, des Elends. Bucklige kleiden sich so und Bettlerinnen. Und den entfärbten Weibern der rue Bouterie gibt das einzige Kleidungsstück die einzige Farbe: rosa Hemden.“
Und auch davon ist am alten Port, zumindest bei Tageslicht, nichts mehr erkennbar. Es sind touristische Scharen, die um den Hafen herum flanieren oder sich für 50 Cent vom einen anderen zum anderen Ufer fahren lassen; es grüßen überteuerte Hafencafés, die mit allerhand Köstlichkeiten locken und Boutiquen, die in den Schaufenstern mit der aktuellen (Strand-)Mode werben.
Trotzdem findet Benjamin die starke Einfärbung im Sinne einer Fremdheit und sexueller Konnotation auch reizvoll. Er besucht die Viertel, schlendert hindurch, nimmt Erker, Stufen und Bögen im Zuge seines Rausches wahr.
Marseille ist freilich keine stark französische Stadt. Die Pasta um die Ecke eines jungen Unternehmens schmeckt hervorragend italienisch, die Verkäufer und Angestellten sprechen Englisch. Benjamin bemerkt, dass das Hafenvolk ein schlechtes Französisch spreche. Er beschreibt die Stadt als laut, das Leben finde auf der Straße statt.
„An diesem Stimmenlärm war nun das Eigentümlichste, daß er ganz und gar nach Dialekt klang. Die Marseiller sprachen mir plötzlich sozusagen nicht gut genug Französisch. Sie waren auf der Dialektstufe stehen geblieben.“
Die Kathedrale
Die Kathedrale, die direkt am Meer liegt, wurde zu Ende der Kolonisation gebaut und gilt als deren Symbol. Sie ist eigentlich keine richtige Kirche, denn ihre Funktion beschränkt sich auf die Sichtbarkeit vom Meer aus. Wegen dieser Funktionalität wird sie auch als Religionsbahnhof zu Marseille bezeichnet.
„Auf dem unbetretensten, sonnigsten Platz steht die Kathedrale. Hier ist es ausgestorben, trotzdem im Süden, zu ihren Füßen, La Joliette, der Hafen, im Norden ein Proletarierviertel dicht anstößt. Als Umschlagplatz für ungreifbare, undurchschaubare Ware steht da das öde Bauwerk zwischen Mole und Speicher. An vierzig Jahre hat man darangesetzt. Doch als dann 1893 alles fertig war, da hatten Ort und Zeit an diesem Monument sich gegen Architekten und Bauherrn siegreich verschworen, und aus den reichen Mitteln des Klerus war ein Riesenbahnhof entstanden, der niemals dem Verkehr konnte übergeben werden.“
„An der Fassade sind die Wartesäle im Innern kenntlich, wo Reisende I.–IV. Klasse (doch vor Gott sind sie alle gleich), eingeklemmt wie zwischen Koffer in ihre geistige Habe, sitzen und in Gesangbüchern lesen, die mit ihren Konkordanzen und Korrespondenzen den internationalen Kursbüchern sehr ähnlich sehen. Auszüge aus der Eisenbahnverkehrsordnung hängen als Hirtenbriefe an den Wänden, Tarife für den Ablaß auf die Sonderfahrten im Luxuszug des Satan werden eingesehen, und Kabinette, wo der Weitgereiste diskret sich reinwaschen kann, als Beichtstühle in Bereitschaft gehalten. Das ist der Religionsbahnhof zu Marseille. Schlafwagenzüge in die Ewigkeit werden zur Messezeit hier abgefertigt.“
Notre Dame de La Garde
Die Stimmung wird fröhlicher, wenn er auf die stolze Notre Dame de la Garde zu sprechen kommt. Im Volksmund „La Bonne Mère“, die „gute Mutter“ genannt, wacht sie erst seit 1864 über Marseille. Ihr voraus ging eine kleine Kapelle auf dem Hügel „La Garde“ die 1214 errichtet wurde und auch 200 Jahre später nach ihrer Erweiterung nicht mehr als 60 Personen beherbergen konnte. 1524 nahm sie zusammen mit dem Château d’If eine militärische Funktion ein und blieb nur durch eine Zugbrücke für zivile Besucher erreichbar.
Benjamin beschreibt sie als eine Art Tempel:
„Notre Dame de la Garde. – Der Hügel, von dem sie herabblickt, ist der Sternenmantel der Gottesmutter, in den die Häuser der Cité Chabas sich einschmiegen. Nachts bilden die Laternen in seinem samtenen Innern Sternenbilder, die noch keinen Namen haben. Er hat einen Reißverschluß: die Kabine unten am stählernen Bande der Zahnradbahn ist das Kleinod, aus dessen gefärbten Butzenscheiben die Welt zurückstrahlt. Ein ausgedientes Fort ist ihr heiliger Fußschemel, und ihren Hals umgibt ein Oval wächserner, verglaster Votivkränze, die wie Reliefprofile ihrer Vorfahren aussehen. Kettchen von Dampfern und Seglern bilden die Ohrgehänge, und aus den schattigen Lippen der Krypta drängt sich ein Schmuck rubin- und goldfarbener Kugeln, an dem die Pilgerschwärme wie Fliegen hängen.“
Innen drin befinden sich Reliquien aus vergangenen Fischerzeiten wie Bilder von Fischern und Booten in stürmischer See. Von der Decke baumeln aus Holz gefertigte Schiffe herab. Zu Benjamins Zeit führte eine Seilbahn nach oben. Aber auch für diejenigen, die dem einstündigen Marsch mit 15%er Steigung weniger zugeneigt sind, findet sich knapp darunter ein Parkplatz. Es ist windig, sehr windig und tatsächlich lässt sich ganz Marseille von oben erblicken. Die Stadt, den Waldbrand (der weiße Fleck ob dem oberen Bild hinter der Stadt), die Frioul-Inseln und das ehemalige Gefängnis Château d’If, in dem Edmond Dantes aus der berühmten Erzählung von Alexandre Dumas über 20 Jahre seines Lebens verbracht hatte.
Die Informationen für diesen Beitrag stammen aus der Einheit vom 3.5.2017 der Ringvorlesung „Literatur und Kultur – Literaturwissenschaft: Ringvorlesung: Secondary oder peripher? Städtebilder der Romania im Spannungsfeld von Regionalität, Nationalität und Globalität“ an der Universität Innsbruck im Sommersemester 2017 unter der Leitung von Schrader Sabine.
- Walter Benjamin: Städtebilder – Kapitel 3 (gutenberg.spiegel.de)
- Haschisch in Marseille (textlog.de)