Die französische Gesellschaft wird auch bei Charles-Pierre Baudelaire thematisiert, der ebenfalls versucht, einen geheimen Sinn zu finden. In Le Fleurs du Mal (zu Deutsch: Die Blumen des Bösen), einem Band mit 100 Gedichten von 1857, geht es dem 36-Jährigen nicht mehr darum, Paris vollkommen zu erfassen – von dieser Idee hatte er sich bereits verabschiedet -, sondern um Sinneseindrücke. Sinneseindrücke, die in der Masse, im Gewimmel so etwas wie einen Schock auslösen können. Und Schock ist etwas, was die städtische Wahrnehmung ausmacht, weil alles viel zu viel ist. Neu ist die, wenn auch sparsame, Integration der Welt der Großstadt in die Lyrik als eher abstoßend und düster – was allerdings der Realität im überbevölkerten und schmutzigen Paris zu jener Zeit entsprach.
Den Eindruck, den Baudelaire vermittelt, erfährt man in jeder größeren Stadt, so wie Rom oder London und besonders in Kairo. In jeder Stadt, die geschäftig ist, in der Menschen hin- und herhetzen, Verkäufer verkaufen, Musikanten für Geld singen bis hin zum Gedränge der U-Bahn zur Rush Hour und so weiter. Abgesehen von Paris im März, wenn die Geschäftigkeit etwas zum Erliegen kommt und es möglich ist, gemütlich zu flanieren, ohne dass man anderen im Weg steht.
Baudelaire schreibt von einem Verlust von Authentizität, einer Bevölkerung, deren Gehirne von Geist und Giften geschwängert sind, von Masken der Freude und der Heuchelei. Sicherlich eine Übertreibung, um das Monströse einer Großstadt herauszuzeichnen. Er assoziiert Paris mit Prostitution, Krankheit und Laster im Rahmen einer christlichen Ethik. Und doch ist es das Hässliche, das ihn fasziniert, eine Ambivalenz, die sich durch die moderne Dichtung zieht und später typisch für die Großstadtliteratur wird.
Vielleicht etwas abstrus, aber vergleichbar ist Baudelaires Vorstellung mit der Comic-Stadt Gotham, über die Batman herrscht, die ebenfalls düster und grau und abschreckend und finster und bedrohlich wirkt – sei es im gezeichneten Comic oder in Verfilmungen. Alles, was böse und korrupt ist, findet sich in Gotham wieder, in dem gerade die schlechten und bösen Charaktere die interessantesten sind.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts findet dann eine naturalistische Annäherung statt, die Emile Zola im 1873 erschienenen Roman La ventre de Paris darlegt. Die Handlung spielt sich am zentralen Markt Les Halles ab, dem „Bauch von Paris“. Er visualisiert die Stadt durch eine impressionistische Schreibweise, in der das Sehen im Vordergrund steht. Jemand, der aus der Fremde in die Stadt kommt, ist überwältigt und vermag die Eindrücke gar nicht zu sortieren, bis er eine Kirche entdeckt, die Orientierung bietet. Die aus Glas und Stahl erbauten Markthallen gelten als Meilensteine des Fortschritts und Zola setzt sich mit der Lebenswirklichkeit der arbeitenden Klassen auseinander.
Die „Entregelung aller Sinne“, das gleichzeitige Existieren von allem, die stets begleitende Geschwindigkeit, die keine Zeit zur Reflexion lässt, das Neuartige, das Fremde, Optisches, Akustisches, – all das überwältigt die Sinne und man lässt sich dankbar in einem kleinen Café oder einer Kirche nieder, in der Schweigen und Stille gewollt sind.
Ruhe sucht man in Notre Dame und findet sie schlussendlich beim Orgelkonzert. Ironischerweise liegt Notre Dame an nahen, dicht befahrenen Straßen, die man erst allesamt überqueren muss, bevor man sich in deren Schatten niederlassen kann. Und bevor man sich in das Innere vorwagen darf, gilt es, die Tauben von Hand zu füttern. Einen Euro zahlt man dafür, dass sich Tauben auf die Hände und vielleicht sogar auf den Kopf setzen.
Wikipedia versorgt mit Fakten: „Unsere Liebe Frau von Paris“, so die Übersetzung, wurde zwischen 1163 und 1345 gebaut und ist eines der ältesten gotischen Gebäude in Paris. Samstag kann man um 20 Uhr bei freiem Eintritt dem Orgelspiel lauschen, das tatsächlich überwältigend ist, aber manchmal auch seltsam anmutet. Die beiden Türme sind 69 Meter hoch, der Dachreiter 96 Meter. Das Kirchenschiff ist im Inneren 130 Meter lang, 48 Meter breit und 35 Meter hoch; es bietet bis zu 10.000 Personen Platz.
Es empfiehlt sich, den Kopf oder das Gerät um 90° zu drehen.
Es stellt sich gegen Ende die Frage: Kann ein Erzähler, ein Dichter, ein Schreiberling, können wir tatsächlich die Stadt komplett im Blick behalten? Natürlich nicht! Vermochte er es zumindest im 19. Jahrhundert, einer Zeit, die dezent überschaubarer war als das mittlerweile 21. Jahrhundert? Auch nicht. Diese kurze Ausschweifung in die Literatur zeigt uns lediglich, dass unsere Vorstellungen bereits geschustert wurden, bevor wir überhaupt einen Fuß in die Stadt gesetzt haben. Wir können uns höchstens selbst fragen und versuchen zu reflektieren, was wir als „wahr“ und was als Konstrukt ansehen möchten.
Eine überschaubare Reisezeit von 4 Tagen sowie begrenztes Budget machen es jedenfalls unmöglich, alle Facetten gleichermaßen kennenzulernen.
Fazit: Dichtes Programm, wechselhaftes Wetter, teure Getränke und Speisen (Wasser für 4,50 €, Notfall-Pizza für 15€), obwohl ich zuvor extra noch die günstigen Viertel herausgesucht hatte. Machte Paris auf mich den Eindruck einer romantischen Stadt? Die düsteren Betonbauten – im Grau der Wolken noch grauer, der überlaufene Eiffelturm sowie die teuren Preise ließen wenig einer bohémischen Romantik erahnen. Vielleicht das nächste Mal.
Tipp: Geekshop Album, der sich auf zwei gegenüberliegende Geschäfte verteilt. Anime, Comics, Merchandise, alles, was das Herz begehrt, lässt sich finden: Doctor Who, Star Trek, Star Wars, Marvel, DC, Mangas, Plüschtiere, und so weiter. Adresse: 67 Boulevard Saint-Germain, 75005 Paris.
Comics, so weit ich sah, großteils auf Englisch.
Die Informationen für diesen Beitrag stammen u.a. aus der 3. Einheit der Ringvorlesung „Literatur und Kultur – Literaturwissenschaft: Ringvorlesung: Secondary oder peripher? Städtebilder der Romania im Spannungsfeld von Regionalität, Nationalität und Globalität“ an der Universität Innsbruck im Sommersemester 2017 unter der Leitung von Schrader Sabine.