Mein Mitreisender und ich schlenderten 4,5 Tage durch Paris und besichtigten allerhand Sehenswürdigkeiten, durchstreiften Gassen und staunten über die teuren Preise bei Speis und Trank. Abgesehen von der Spitze des Eiffelturms, die wir beide bei früheren Besuchen schon besucht hatten, und dem Center Pompidou, das wegen Streik geschlossen hatte, sowie dem Louvre und Disneyland, kamen wir an fast allen wichtigen Stationen (mehrfach) vorbei.
Besonders fasziniert war ich von einer Philosophischen Buchhandlung und auch die kleinen Stände mit alter französischer Literatur entlang der Seine verliehen der Stadt einen „romantischen“ Eindruck. Vielleicht fügte sich das verklärt romantisierte Bild auch gerade durch diese Kleinigkeiten zusammen: Der Bohémien (nicht zuletzt durch Puccini’s La Bohéme) der an der Seine seinen französischen Dichter kauft, diesen unter dem Dach liest und sich im Quartier Latin herumtreibt – eine romantische Idealvorstellung, bis auf den Hunger, die finanzielle Not, die Kälte und gesellschaftliche Ablehnung.
In der Großstadtliteratur selbst mangelt es an traditionellen Darstellungsmodellen, was so viel bedeutet wie: Es gibt sie nicht. Es gibt keine Tradition in der Literatur, die sich mit Großstädten beschäftigt, auf die zurückgegriffen werden kann – was aber auch Vorteile mit sich bringt und der Literatur ermöglicht, sich einen bislang unerschlossenen Raum zur Verfügung zu machen und neu zu schreiben. Für Kritiker gelten Metropolen als Gegenstand ohne Würde. Mittlerweile mag das zutreffen, wenn sich das Stadtzentrum als einzige Shoppingallee versteht, an denen Kommerz und Konsum vorherrschen.
Und gerade in den langen Schlangen vor den Sehenswürdigkeiten wartend, glänzen Städte mit Bravour und besonders Versailles, das mit von Gold überzogenen Zäunen, Zinnen, Figuren und so weiter wohl am meisten beeindrucken möchte. Meine Reisebegleitung und ich standen mindestens zwei Stunden an (es empfiehlt sich, das Ticket davor zu besorgen), wobei wir uns beim Ticketkauf und dem eigentlichen Anstellen aufteilten, um die Zeit zu verringern. Und wenn man glaubt, es gäbe zwei Schlangen, so irrt man sich – es ist tatsächlich eine Schlange, die den gesamten Weg zurück bis zum Anfang und wieder hinauf zum Letztendlichen Eingang führt.
Der Ort Versailles selbst wurde 1038 erstmals urkundlich erwähnt. In dessen Dorf befand sich im 17. Jahrhundert ein kleines verfallenes Schloss mit Mühle. 1677 verkündete Ludwig XIII Versailles als Regierungssitz. Beeindruckend sind die Räumlichkeiten wie auch der Garten, sowie auch die Massen an Touristen, in deren gleichmäßiger Bewegung man durch die Gänge geschleust wird. Ein Schlafzimmer hier, ein Schlafzimmer da, wir wunderten uns über die winzigen Betten und als man den Garten erreichte, versteckte sich die Sonne zunächst hinter den Wolken.
Die Außenanlagen selbst sind von klassischer Musik erfüllt und man wünscht sich, den Garten inklusive Pferd für sich alleine zu haben, und träumt von historischen Events, in der alle Teilnehmer in adäquater Gewandung hin- und herschlendern – und nach etwas Recherche findet man heraus: Am 24. Juni wäre es wieder soweit. Wer über das notwendige Kleingeld von ca. 100 € pro Person (im 6er-Gruppenticket für 615 €) sowie das entsprechende Gewand verfügt, der mische sich unter die französische Barock-Gesellschaft.
Paris in der Literatur des 19. Jahrhunderts
Städte sind in der Literatur, laut Andreas Mahler (in seinem Werk Stadt-Bilder), immer imaginiert und so handelt es sich bei einem Roman nicht um einen Reiseführer, sondern um eine „erzählte Stadt“. Literaturstädte referieren auf existierende Städte, aber man stellt sie sich neu vor, nimmt sich gewisse Elemente heraus, wie ein besonderes Stadtviertel, und kombiniert dieses neu, macht sie handgreiflich. Somit wird verständlich, dass von narrativer Konstruktion gesprochen ist, und man beginnt sich zu fragen: Wie wirklich ist die Stadt, von der ich lese?
Bei Louis-Sébastien Mercier, bekannt für seinen utopischen Zeitreise-Roman L’an deux mille quatre cent quarante. Rêve s’il en fût jamais von 1791, schildert im 1781 erschienenen Le Tableau de Paris das Alltagsleben der Großstadt. Damit begründete er eine neue Form der Stadtbeschreibung, in der er auf alltägliche Akzente setzt. Er beschreibt nicht die Architektur, sondern die Sitten und moralische Physiologie sowie soziale Kontraste vor dem Hintergrund der französischen Revolution. Er thematisiert die ländliche Idylle und stellt dieser eine entfremde Stadt gegenüber.
Honoré de Balzac versucht in La Comédie humaine (zu Deutsch: Die menschliche Komödie) um 1830 ebenfalls, Paris in seiner Totalität zu erzählen. Er plante 130 Bände, vollendete jedoch nur 92 und schrieb Essays wie auch realistische Romane, Kurzgeschichten und Erzählungen.
Angesiedelt sind diese in der Zeit von 1793 bis 1840. Er sah sich als Sekretär der französischen Gesellschaft; ihm oblag die Aufgabe, alles aufzuschreiben, jeden Aspekt, und einen Mikrokosmos der Welt zu gestalten.
„Die Unermeßlichkeit eines Planes, der zugleich die Geschichte und die Kritik der Gesellschaft, die Analyse ihrer Übel und die Erörterung ihrer Prinzipien umfasst, berechtigt mich, so scheint es mir, meinem Werk den Titel zu geben, unter dem es heute erscheint: Die Menschliche Komödie.“ (Balzac, Die Menschliche Komödie).
Für Gefühle und Leidenschaften entwickelte er verschiedene Charaktere und versuchte, über die Literatur soziale Auswirkungen der Transformation der Gesellschaft zu erfassen. Es findet sich eine starke Kausalität zwischen Raum und Person: So stehen zum Beispiel Dachwohnungen mittellosen Leuten zu, während die erste Etage von Reichen bewohnt wird. Und es ist immer eine Person, die die Stadt charakterisiert.
Was uns natürlich sofort an Moulin Rouge (2001) erinnert – in dem der englische, arme Schriftsteller unter dem Dach haust und sich in die Kurtisane Satine verliebt, die davon träumt, eine erfolgreiche Schauspielerin zu werden. Leider fiel mir der Song „One day I’ll fly away“ zu spät ein. Zahlreiche Sexshops zieren die Straße beidseitig auf dem Weg zum Moulin Rouge, dessen Turm mit Windrad knallrot, aber kleiner als erwartet, auf die Straße blickt. Um Kontraste zu schüren (oder weil es in der Umgebung lag), hatten wir davor den Montmartre und die Sacré-Cœur besucht.
Die Informationen für diesen Beitrag stammen u.a. aus der 3. Einheit der Ringvorlesung „Literatur und Kultur – Literaturwissenschaft: Ringvorlesung: Secondary oder peripher? Städtebilder der Romania im Spannungsfeld von Regionalität, Nationalität und Globalität“ an der Universität Innsbruck im Sommersemester 2017 unter der Leitung von Schrader Sabine.