Der emotional schönste, empowerndste Moment im gesamten Superheldenkino geschieht in X-Men: Apocalypse: Die junge Jean Grey, von Professor X, dem immerhin mächtigsten Telepathen der Welt, um Hilfe gerufen, tritt in Kampfstiefeln auf die Bühne, begleitet von ihrem zarten musikalischen Motiv, entfesselt ihre Kräfte und rettet die Welt. Eine junge, sensible Frau hebt mit rein mentaler Stärke, mit schierem Willen statt von Männern geschaffenen Waffen die Welt aus den Angeln. Wonder Woman kann einpacken. Seit diesem Moment ist Jean Grey meine Heldin, die einzige Superheldin, die ich brauche – die einzig wahre Superheldin, möchte ich behaupten. Ja, mit großer Macht kommt große Verantwortung. Aber nur, wer Mitgefühl empfinden kann, sollte eine solche tragen dürfen, um sie nicht eigennützig einzusetzen. Und nur Jean Grey weiß jederzeit, „what everybody feels“. Sie ist damit das weibliche Prinzip und beweist dessen Last wie Stärke.
Logan (aka Wolverine) hingegen empfindet nur Selbstmitleid und ist Held wider Willen. Neun Filme lang. Obwohl er nie die treibende Kraft im X-Men-Universum war, sondern immer nur Agent, Soldat an der Front zwischen Militarismus und Pazifismus. Trotzdem dürfen wir ihm nun auch noch über zwei Stunden lang beim Sterben zusehen. Es ist okay, Hugh Jackman hat sich diesen Film verdient, aber es ist nicht der X-Men-Film, den wir brauchen. Es ist, genau genommen, gar kein X-Men-Film. Zwar werden die üblichen Themen durchgekaut und minimal variiert (Kampf mit der eigenen Vergangenheit und Ringen um eine Zukunft, der Mutant als menschliche Waffe), aber allein die Tatsache, dass ALLE TOT SIND und dies kaum reflektiert wird (Charles erwähnt Erik nicht mit einem Wort) und sich auch emotional nicht absetzt, verschließt den Film vor all den komplexen Beziehungen, die das X-Men-Geflecht bilden. Das emotionale, psychologische Gewicht, das Logan nachgesagt wird, entsteht absolut nicht im Film selbst, sondern durch die vorausgesetzte Erinnerung an die acht anderen Filme, an Logans Traumata, Fehler und Verluste. Es ist bezeichnend, dass sich Logan schließlich nur selbst besiegen kann. Wolverines Kampf war nie ein gesellschaftlicher (wie der vieler anderer Mutanten), es war immer einer mit sich selbst. Aber wer so lange lebt und so viele geliebte Menschen am Wegesrand lässt, kann schließlich vielleicht nur um sich selbst rotieren. All die Jahre und Leben, die Logan hinter sich hat, spürt man aber bestenfalls in Hugh Jackmans schleppendem, müden, aber dennoch immer noch sturen, zielsicheren Gang, an den fetischisierten Narben auf dem alten, immer noch bulligen Körper.
Aber es ist schön, dass Wolverine in seinen letzten Stunden noch mal ein Mädchen retten darf, so wie damals, als seine Karriere begann. Es ist schön, dass er eine mögliche Zukunft hinterlässt und nicht nur in seinem Wehleid versumpft. Es ist sogar schön, dass etwas von ihm bleibt. Aber wie geht es nun weiter mit der kleinen Wolverina? Was für ein Leben schaffen sich die jungen Mutanten – und zwar ohne Mentoren wie Professor X, die ihnen einen Weg weisen? Ich möchte es wissen. Logan ist für mich vor allem interessant als Start einer neuen Trilogie namens Laura. In der sie lernt, etwas zu fühlen, und Bösewichten gegenübergestellt wird, die Menschen sind und keine Kampfmaschinen – wodurch das Töten auch tatsächlich wieder schmerzhaft wird statt effekthascherisches Gemetzel. Nimmt man sich schon den Spätwestern als Vorbild, kann man sich doch auch an dessen kritischer Gewaltdarstellung versuchen.
Besonders in den letzten Minuten ließ mich Logan wieder so schmerzhaft das Vakuum des Superheldenfilms spüren, den wir brauchen. Das ist kein weiterer Solofilm eines selbstzerfressenen oder ironischen oder total durchschnittlichen Superhelden. Wir brauchen auch nicht wirklich eine aufgepumpte Superheldin mit Schwert in Zack-Snyder-Ästhetik. Was fehlt, ist ein Jean-Grey-Film, der sie als Mensch ernst nimmt und nicht als Instrument für männlichen Größenwahn missbraucht. Was passiert, wenn sie rein als Waffe eingesetzt wird, ohne dass auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird, sieht man ja in The Last Stand. Dabei kann sie nicht nur zerstören und besiegen, sondern auch Frieden geben, weil sie intuitiv weiß, was die Menschen zu ihrem Tun treibt und was sie wirklich brauchen. So besänftigt sie den entfesselten, tierischen Wolverine in Apocalypse, indem sie ihm einen Teil seiner Erinnerung und damit Menschlichkeit zurückgibt. Gewalt ist nur ein Symptom. Jean Grey kann möglicherweise die Krankheit heilen, indem sie Gesinnungen verändert.
Interessant an Logan ist aber durchaus seine Atmosphäre – dieses dreckige, realistische, dezent post-apokalyptische Setting, in das die Superheldenkräfte fast widernatürlich hineingepflanzt werden und in der alle Anwesenden tatsächlich fragil und sterblich sind. Als Genrezitat gelingt dem Film allerdings wenig. Ein Protagonist mit Alkoholproblemen und ein paar blutige Actionszenen machen einen Film nicht automatisch „reifer“. Es hebt das Alter der Zielgruppe vielleicht um eine Handvoll Jahre, das wars. Dennoch eröffnet der Film Möglichkeiten – auch für einen Jean-Grey-Film. Aber selbst damit war er nicht der Erste: https://vimeo.com/108676254
Fast nicht auszuhalten, dass dieser erstaunliche, wahnsinnig befriedigende Film schon nach 13 Minuten endet. Ich will mehr! Ich brauche Filme wie diesen, mit stillen, marginalisierten, ambivalenten Heldinnen. In realistischen Settings mit realen, vorstellbaren Konflikten. Mit schöner Atmosphäre (z.B. von meinem Lieblingskameramann Adam Arkapaw), die Psychologie in Bildern erzählt und das Wunder an verlorenen Orten allein durch unwirkliches, sandiges Licht heraufbeschwört. Denn auch wenn Logan das vielleicht vorgibt: Er ist nicht wirklich dieser meditative, poetische Abgesang in melancholischen, zeitlos-schönen Bildern. Gerade als Western-Fan war ich enttäuscht von den nur selten mythologisch aufgeladenen Einstellungen, der unbefriedigenden Nutzung von Weite, Wüste und Wäldern. Ich möchte einen Superheldenfilm, der wirklich schön ist. Nicht überstilisiert wie ein Zack-Snyder-Film, sondern mit Bildern, in denen man baden möchte und die trotzdem schmerzhaft echt sind.
Logan schließt vielleicht eine kleine Lücke im Superheldengenre, aber er öffnet auch eine noch viel größere.
Logan
(dt.: Logan: The Wolverine)
2017
Regie: James Mangold
Drehbuch: Scott Frank, James Mangold, Michael Green
Schauspiel: Hugh Jackman, Dafne Keen, Patrick Stewart, Boyd Holbrook, Stephen Merchant, Richard E. Grant
Kamera: John Mathieson
Musik: Marco Beltrami
Yardbird
2012
Regie: Michael Spiccia
Drehbuch: Julius Avery
Schauspiel: Mitzi Ruhlmann, Luke Elliot, Wade Briggs
Kamera: Adam Arkapaw
Musik: Elliott Wheeler
Bilder © Twentieth Century Fox
4 comments
Von „Yardbird“ will man tatsächlich mehr sehen. Wunderbar atmosphärisch eingefangen. Kann mich dunkel erinnern, den schon einmal gesehen zu haben. War das nicht sogar auf deinem alten Blog?
„Logan“ steht noch auf meiner Kinoliste. Ich hoffe, ich kann mir trotz knapper Zeit noch ein Bild von machen. Scheint ja schon der unkonventionellste Heldenfilm im X-Men Kosmos zu sein („Deadpool“ zählt nicht!).
Nein, der Film war mir bis vor Kurzem neu.
Ein wenig sticht „Logan“ schon heraus im X-Men-Kosmos, aber ich finde, jeder X-Men-Film hat eine besondere Stimmung, einen eigenen Charakter. Deswegen war ich nicht so überwältigt von der Andersartigkeit dieses Films. Zumal das Bodenständige ja spätestens seit Netflix‘ Marvel-Serien im Superheldengenre angekommen ist.
Dann hab ich den wohl doch woanders gesehen.
Ich muss gestehen, das die X-Men bei mir immer ein wenig unter dem Radar liefen. Hab zwar meines Wissens alle gesehen (außer „Apocalypse“), aber so richtig was ‚hängengeblieben‘ ist nicht. Außer eben irgendwie immer Wolverine, weil er in diesem Kosmos einer der interessantesten Figuren ist (neben Jean Grey).
Echt, du findest Wolverine interessant? Wie schon geschrieben, ist er ja eigentlich nur eine Randfigur im andauernden Zwist zwischen Prof X und Magneto und dafür viel zu oft ins Zentrum gerückt. Zumal er sich nicht mal besonders entwickelt über die neun Filme hinweg (abgesehen davon, dass er seine Vergangenheit zurückbekommt und sich verliebt). Aber Filmcharaktere sind eben Geschmackssache.
Die X-Men-Filme führen ja auch eine relative Randexistenz, neben Batman und dem Marvel Cinematic Universe – dabei ist es die verlässlichste und politisch nun mal wichtigste Superheldenreihe. So was von unterschätzt!