Kelly Reichardts Filme erzählen von Verlorenen und Suchenden, auf eine besonders reine, unverstellte, unmittelbare Art und Weise. Dabei beobachtet sie geduldig das oft ereignislose Treiben, Warten, Wandern, Suchen ihrer Protagonist_innen. Aber erst nach Certain Women ist mir bewusst geworden: Es ist nicht ein Zeitgefühl, das sie dadurch vermittelt (wie die meisten andere Meister der Langsamkeit), sondern ein Raumgefühl. Orte sind bei Kelly Reichardt nur Transiträume und nicht zum Verweilen gedacht. Sie sind notwendige Übel oder aber auch erwünschter Teil einer Erfahrung auf dem Weg zum Ziel. Ob die Figuren ihr Ziel je erreichen, erfahren wir aber nicht. Wir begleiten sie nur in diesem Übergansstadium, das aber trotzdem einen Wendepunkt darstellt. Das Leben, das sind diese kleinen alltäglichen Hürden, Herausforderungen, Enttäuschungen und Kompromisse zwischen zwei Stationen, ein Suchen und Verlieren von Träumen und Mitreisenden. Und bei Kelly Reichardt werden diese Übergangsstadien vor allem von den Räumen (meist der Wildnis oder unwirtlichen Kleinstädten) geprägt. Deshalb muss das Kameraauge sie minutenlang aufsaugen, ihre Atmosphäre wirken lassen und die alltäglichen oder schutzlosen Wege der Figuren in ihnen nachzeichnen.
Die drei Frauen des Episodenfilms Certain Women scheinen hingegen beinahe angekommen in ihrem jeweiligen Leben als Anwältin in einer Kleinstadt, nicht näher definierter Chefin mit ländlichem Hausbauplan und Pferdepflegerin. Sie streben weniger nach einer großen Umwälzung als dass sie mit kleinen, von Menschen geschaffenen Hürden umgehen müssen, auf dem Weg zu einem beinahe bescheidenen Ziel. Die Anwältin will eigentlich nur als Frau ernst genommen und nicht durch sture Klienten in alberne Geiselnahme verwickelt werden. Die Chefin will ein Häuschen auf dem Land, am liebsten gebaut aus dem uralten Sandstein, der im Garten eines älteren Bekannten vermodert. Und die Pferdepflegerin will eine Freundin zum Pferdestehlen, möge diese auch vier Autostunden entfernt wohnen, wie die junge Anwältin, die in der örtlichen Schule einen Kurs über Schulrecht gibt.
Aber die Menschen stehen ihnen im Weg. Wie sehr, das macht immer wieder Christopher Blauvelts Kamera und das intelligente Platzieren der Darsteller_innen deutlich. Die Männer verdecken die Frauen. Sie sind wie ein Klotz am Bein, eher tollpatschig als hilfreich, und werden trotzdem von den Frauen überwunden. Aber selbst die ersehnten, positiven Beziehungen funktionieren nicht. Da ist eine unüberwindbare Kluft: vier Autostunden zur potenziellen Freundin, Zimmer und Türrahmen, die in der cleveren ersten Einstellung zwei Geliebte vereinzeln, ein Labyrinth aus Trennwänden in einem Bürokomplex. Das eigentliche Hindernis zum nächstbesten Ziel – die Menschen und ihre individuellen, oft eigennützigen Bedürfnisse und Lebenssituationen – werden visualisiert durch Entfernungen und Mauern.
Aber Kelly Reichardts Räume, vor allem die Natur, Wälder, Seen, Wüsten strahlen auch immer eine wohlmeinende Ruhe aus. Sie sind nur der stoische, überdauernde Hintergrund für dieses kleine vergängliche menschliche Mühsal – so etwa diese Gebirgslandschaft in Certain Women, die in jeder Totalen in weiter Ferne unverrückbar dasteht, gleichgültig, kalt, aber wunderschön, vor allem im Kontrast zu braunen, öden Feldern. Manchmal dürfen die Berge in ihrer ganzen Pracht das Bild einnehmen, dann wieder sind sie eingezwängt in Fensterrahmen. Aber sie beschränken das Blickfeld nicht. Sie stärken eher als universales, verlässliches Prinzip den Rücken – und wirken doch unerreichbar fern, wie das Glück, das die drei Frauen lockt und (besonders in der dritten Geschichte) doch um Haaresbreite niemals erreicht werden kann. Das Leben besteht eben aus dem Weg und nicht dem Ziel.
P.S.: Kelly Reichardt kann also auch Humor, einen ganz feinen, der das Absurde in unangenehmen Situationen findet und ihnen doch ihre Leidensfähigkeit lässt. Und Lily Gladstone ist mit ihrem entrückten, aber positiv-standfesten Wesen und den leichtfüßig von Vorfreude zu Enttäuschung wechselnden Ausdrücken eine echte Entdeckung.
Certain Women
2016
Regie & Drehbuch: Kelly Reichardt
Schauspiel: Laura Dern, Michelle Williams, Lily Gladstone, Kristen Stewart, Jared Harris, James Le Gros
Kamera: Christopher Blauvelt
Musik: Jeff Grace
Bilder © Peripher