Ich habe Michael Nyman live gesehen. Die Nummer eins meiner imaginären Bucket List ist abgehakt (und dann kommt erst mal lange nichts). Das musikalische Highlight meines Lebens liegt hinter mir. Die Erwartungen waren groß und nur Michael Nyman konnte sie erfüllen.
Denn Michael Nymans Filmmusik ist mit mir verdrahtet. Alles begann mit Gattaca, einer kleinen filmischen Besessenheit eines etwa 14-jährigen Mädchens. Um dieses eine Stück Filmmusik zu besitzen („The Other Side“ – nach so vielen Jahren immer noch herzzerreißende unerfüllbare Hoffnung in Reinform), kaufte sich dieses Mädchen eine Best-of-CD. Der Rest ist Geschichte. Schrittweise erhorchte ich mir ein Stück nach dem anderen, denn Michael Nymans Musik ist nicht Liebe auf den ersten Ton. Da hört man Melodien hundertmal und beim hundertersten macht es plötzlich Klick. Zuerst bei „The Heart Asks Pleasure First“, seinem Gassenhauer aus The Piano, der ihn reich machte und ihm nach all den minimalistisch verkopften Peter-Greenaway-Filmmusiken eine neue Stimme und Klientel eröffnete. Dieses kleine, feine Klavierstück, das Adas Stimme im Film ist, enthält alle Emotionen, die ich haben kann, und trägt sie neben- und übereinander gleichzeitig vom ersten bis zum letzten Ton. Jane Campion hatte recht: „She said she thought [Nyman] was the one who could present a visual emotional world with the smallest number of notes in the shortest space.“ Es ist magisch. Nichts habe ich öfter gehört und trotzdem ist diese Melodie nie alt und schal und nervig geworden. Sollte das je passieren, dann werde ich mich fühlen, als hätte ich mich selbst verloren.
So galoppieren sie durch „An Eye for Optical Theory“ völlig selbstbewusst beinahe doppelt so schnell hindurch wie gewohnt. Das klingt überwältigend atemlos, aber dadurch gehen die einzelnen Stimmen, die ich so liebe, eher unter, auch bedingt durch die Lautstärke. Es war das zweite Stück im Konzert und nicht mein liebstes. Denn ihre wahre Stärke im Zusammenspiel liegt dann doch in den Stücken, bei denen sie tatsächlich zusammen- statt gegeneinanderspielen, wenn sie sich gegenseitig unterstützen und im Gleichschritt durch diese variierte Monotonie marschieren. Wenn sie sich dann so in Einklang zehn Minuten lang durch ein repetitiv walzendes Labyrinth hindurchschlängeln, mit all seinen Abzweigungen und Sackgassen, entwickelt das so einen enormen Sog, einen absolut vereinnahmenden Strudel, dass man hinterher, wenn das Stück wie immer abrupt endet, kaum mehr auftauchen kann, aber doch erschöpft nach Luft japst. Gerade die Monotonie ist es, die einen so blindlings mitreißt, an der man hilflos wie eine Fahne im Wind hinterherflattert, auch alle unerwarteten Kreuzungen entlang, und die einen dann nach Lust und Laune urplötzlich ohne Boden unter den Füßen in der Luft hängen lässt. Denn live hakt Nyman mehrere Stücke aneinander. Der schönste Haken wurde dabei in Richtung „Fish Beach“ geschlagen und dann „Sheep and Tides“, dem Instant-Glücklichmachwalzer, der wirklich schier mein Herz zum Platzen gebracht hat, so intensiv schön war das. Besser und mehr und vollkommener und näher kann Musik nicht werden.
Am besten genießt man mit geschlossenen Augen – glücklicherweise, denn von meinem Platz in der vordersten rechten Loge war Nyman sowieso hinter Balkon und Scheinwerfer verborgen. Nicht schlimm, denn allein die voll mitgehende Bratschistin war alle Aufmerksamkeit wert. Und alles endete natürlich mit einem Solo-Piano-„The Heart Asks Pleasure First“ als zweite Zugabe und Nyman verspielte sich einmal und es war perfekt. Und dann torkelt man nach nicht einmal eineinhalb strudelnden Stunden benommen aus dem Saal, lässt sich das erste Autogramm seines Lebens auf eben jene Best-Of-CD aus Teenie-Tagen geben und fährt rundum befriedigt drei Stunden von Zürich nach Hause.
Brilliant concert at @shzrh last night. Many thanks to all
— Michael Nyman (@michaelnyman) 11. Mai 2017
Yes.
Und dann ist der nächste Tag und man fragt sich: Und nun? Denn es fühlt sich an, als hätte man seine Lebensaufgabe erfüllt. Das wars, die eine perfekte Stunde Leben, der makellose Einklang zwischen mir als Individuum und einer externen Gewalt. Besser wirds nicht mehr. Was soll jetzt noch kommen? Wofür sich jetzt noch weiter durchquälen? Worauf sich noch freuen? Das ist gar nicht mal so witzig, wenn man gerade von Woche zu Woche motivationsloser in der Ecke liegt und die Lebenssituation jede Freude stumpf macht. Es ist gut, dass ich Michael Nyman endlich live gesehen habe. Er wird nicht jünger und dieses Bangen war anstrengend. Aber es fühlt sich gerade so an, als wäre mir damit der Sinn meines Lebens abhanden gekommen.
Und was ist der Sinn eures Lebens so?
3 comments
Schön, wenn man in einem Beitrag über Michael Nyman eine Band wie Tool unterbringen kann. 😉
Hihi, ja, muss man können. 😀 Aber komisch, dass sogar ich beim Durchlesen immer darüber stolpere. Ist doch normal, dass man nicht nur eine Sorte Musik mag.
Ja, das ist normal. Das Einbinden zweier so konträrer Genres in einen Beitrag ist die Kunst. Haste also gut gemacht. 🙂